Seit ich offen dazu stehe, dass ich schwul bin und mich oft mit anderen Gays unterhalte, weiß ich, dass ich absolut kein Einzelfall war darin, dass ich jahrelang Schwierigkeiten hatte, mit meiner sehr ausgeprägten Neigung zur Homosexualität umzugehen. Meine Eltern waren daran nicht ganz unschuldig; insbesondere von meinem Vater habe ich schon früh, wenn es um schwule Jungs ging, eigentlich immer nur abwertende Bemerkungen gehört, und auch meine Mutter hielt und hält Gays, Schwule, Homos für pervers und abartig.
Nun ja, ist nicht jeder Sex in gewisser Weise abartig, wenn er nicht ausschließlich dem Ziel der Zeugung eines Kindes dient und so schnell, heimlich und diskret wie möglich abgehandelt wird, sondern Spaß macht? Davon haben meine Eltern allerdings keine Ahnung. Ich weiß nicht, ob die öfter Sex miteinander hatten, als es nötig war, um mich auf den Weg zu bringen … Zumindest können meine Eltern wirklich nicht sehr viel Spaß am Sex gehabt haben; oder sie haben das sehr erfolgreich vor mir verborgen. Sie waren nicht nur Schwulen feindlich, sondern geradezu körperfeindlich. Auf jeden Fall mögen sie die heterosexuelle Erotik gerade noch so akzeptiert haben, aber von der Homosexualität hielten sie nun beide überhaupt nichts. Diese Einstellung habe ich sozusagen mit der Muttermilch eingesogen. Da war es eigentlich kein Wunder, dass ich als die Teenager echte Schwierigkeiten bekam, als ich erkannte, dass mich, anders als die meisten anderen Jungs, die Mädchen überhaupt nicht reizten, sondern ich ausschließlich Jungs interessant fand. In dem Alter, in dem andere Teen Boys schon längst in der ersten Freundinnen hatten und ihre Erfahrungen mit „realen Sex“ machten, gab es für mich noch viele Jahre lang ausschließlich das Masturbieren, die Selbstbefriedigung. Die allerdings betrieb ich sehr extensiv. Fast jeden Abend, wenn ich eigentlich schlafen gehen sollte, machte ich zwar das Licht aus, damit meine Eltern nicht merkten, dass ich noch wach war, aber dann zog ich die Decke über mich, zog mich unter der Decke aus, streichelte mich über all und hatte dabei die aufregendsten Fantasien von den Körpern anderer junger Boys.
Schon währenddessen, erst recht aber nachher hatte ich natürlich immer ein ganz arg schlechtes Gewissen. Ich versuchte es auch immer wieder, mich mit dem Gedanken an junge Mädchen aufzugeilen, an ihre jungen, schlanken Körper und ihre winzigen Teen Titten, aber das wollte einfach nicht klappen. Ich fand nun einmal nur die schlaksigen, etwas linkischen und noch umgeformten Körper der gleichaltrigen Jungs erregend, ebenso wie die harten, muskulösen Körper älterer, reiferer Männer. Ich brauchte nicht die runden, ausladenden, prallen Ärsche der Girls, sondern die festen, knackigen Hintern der Männer, ich brauchte einen Schwanz, und ich brauchte Eier, sonst wurde ich nicht geil. Irgendwann schaffte ich es wenigstens, in meiner Fantasie meine Hemmungen zu überwinden. Der Gaysex, von dem ich träumte, bei dem ging es immer schon ziemlich heftig zur Sache. Nur hatte ich den schwulen Sex, bis ich 21 war, noch nie in der Wirklichkeit erlebt. Vielleicht als Ausgleich für diese vielen Jahre, in denen ich auf realen Gaysex verzichtet hatte, war dann meine schwule Entjungferung, mein erstes Mal Gaysex, aber dafür gleich umso aufregender. Natürlich konnte es dazu erst kommen, als ich mein Elternhaus verlassen hatte. Meine Eltern hätten es mir nie erlaubt, meine sexuellen Erfahrungen in ihrem Haus zu machen; schon gar nicht mit anderen Gay Boys. Natürlich lud ich ab und zu auch mal Freunde ein, aber immer nur für ganz harmlose Sachen; so etwas wie Hausaufgaben machen, miteinander am Computer spielen oder auch einfach nur mal quatschen. Mit Sex hatte das nichts zu tun; die anderen Jungs aus meiner Klasse und meine Freunde außerhalb der Schule waren ja auch alle nicht schwul wie ich; und sie wussten nichts davon, dass ich ein heimlicher Gay war. Das erhöhte natürlich meine Schwierigkeiten, über meine eigene Homosexualität zu reden. Ich konnte nicht einmal darüber nachdenken, ohne mich irgendwie ganz anders als alle anderen Jungen zu fühlen und darunter ziemlich massiv zu leiden. Während meiner Bundeswehrzeit änderte sich daran nichts; es weiß sicherlich jeder, wie man in der Bundeswehr über Schwule denkt. Doch dann begann endlich meine „Freiheit“; nach meiner Bundeswehrzeit ging ich als Student nach Gießen an die Fachhochschule.
Dort gab es wahnsinnig viel Neues, und ich war zuerst einmal vollständig überwältigt und versuchte ein paar Wochen lang, mich in all das Neue hineinzufinden. Irgendwann entdeckte ich dann zufällig am schwarzen Brett in der Mensa einen Zettel, auf dem ein schwuler Stammtisch Werbung für sich machte. Die Gays unter den Studenten trafen sich regelmäßig alle zwei Wochen in einem bestimmten Lokal. Kaum hatte ich diesen Zettel gelesen, begann mein Herz schon ganz stark zu klopfen. Ich hatte von Anfang an das ganz sichere Gefühl, dass ich hier etwas finden würde, was ich bisher in meinem Leben immer vermisst hatte – ohne dass ich jetzt genau hätte sagen können, wie ich mir das im einzelnen vorstellte. Trotz meiner Sicherheit, dass dieser Schwulen Stammtisch für mich genau das Richtige war, konnte ich mich doch nicht sofort dafür entscheiden, ihn aufzusuchen. Den ersten Stammtischabend verpasste ich, und zwar nicht etwa, weil ich es vergessen gehabt hätte, dass er stattfand, sondern weil ich mich einfach nicht traute hinzugehen. Stattdessen saß ich den ganzen Abend Zuhause, und fühlte mich richtig hin und her gerissen. Einerseits wäre ich unheimlich gerne bei anderen Männern gewesen, die ebenso wie ich homosexuell waren und nicht an Frauen interessiert, andererseits drohte aber, das wusste ich, bei meinem ersten Zusammentreffen mit anderen Gays die ganze Scham, die ich in meinem Elternhaus und bei der Bundeswehr bei dem Gedanken empfunden hatte, schwul zu sein, wieder aufzubrechen. Ich war mir nicht sicher, ob ich damit fertig werden würde. Innerlich hatte ich mich ein bisschen sogar schon damit abgefunden, realen Schwulen Sex vielleicht nie erleben zu können. Die darauf folgenden zwei Wochen verbrachte ich mehr damit, über den Gay Stammtisch nachzudenken, als damit, mich mit meinen Studien zu befassen. Irgendwann erkannte ich, wenn der Stammtisch das nächste Mal stattfand, musste ich einfach hingehen. Es hatte keinen Sinn, weiter die Augen zu zumachen und vor mir selbst wegzulaufen. Wenn es hier schon einen Gay Stammtisch gab, dann konnte es so schlecht und verachtenswert gar nicht sein, ein Gay zu sein. Vielleicht, so überlegte ich mir, um mich selbst davon zu überzeugen, dass ich auf den nächsten Stammtisch unbedingt gehen müsse, konnten die anderen Gays dort mir sogar helfen, endlich zu mir selbst zu stehen.