Ich hasse Workshops, Wochenendseminare und Fortbildungskurse. Nicht dass ich etwas dagegen hätte mich weiterzubilden; das ist ja heutzutage in jedem Beruf unerlässlich. Aber für solche Veranstaltungen geht dann im Zweifel immer mindestens ein Wochenende drauf. Das ist ja sonst die einzige Zeit, außerhalb des Urlaubs, wo sich Berufstätige auch mal ausruhen und entspannen können. Da kommt man aus einer stressigen Arbeitswoche, treibt sich auf einem solchen Seminar herum – und kaum hat man das glücklich hinter sich gebracht, geht es ohne Pause weiter mit der nächsten stressigen Arbeitswoche. Noch dazu ist mindestens die Hälfte der Zeit, die man auf solchen Workshops verbringt, absolut überflüssig. In aller Regel könnte ich es mir in zwei Stunden gut selbst beibringen, was ich dort an zwei Tagen beigebracht bekomme. Und weil die Fortbildung meistens ja auch nicht am Heimatort stattfindet, sondern ganz woanders, habe ich noch die anstrengende Fahrt hin und zurück und kann mich nicht einmal an den Abenden wenigstens ein bisschen erholen, sondern langweile mich im Hotelzimmer. Oder verbringe langweilige Stunden mit Leuten, die ich weder kenne, noch eigentlich kennenlernen wollte und mit denen es auch überhaupt keinen Spaß macht, zusammen zu sein; nur damit man mich nicht als Außenseiter verspottet, der ständig für sich bleibt.
Aber es hilft ja alles nichts – Weiterbildung muss sein, darauf besteht mein Chef; und recht hat er damit; aber er besteht eben leider auch darauf, dass es auf solchen Seminaren geschieht. Dummerweise ist mein Chef gleichzeitig mein Ehemann. Deshalb kann ich mich umso weniger gegen solche Vorschläge wehren. An dem Wochenende, wo ich sonst auf einem Seminar wäre, hätte ich sonst auch überhaupt keine Freude, sondern einen ziemlichen Ehekrach im Haus. Deshalb lasse ich mich dann doch immer mal wieder breitschlagen dazu, ein solches Seminar zu besuchen. Dieses Wochenende ist gerade wieder mal eines; über Ethno Marketing. Klingt ja schon interessant; aber ich bin sicher, ich werde dort nicht halb soviel lernen, wie wenn ich über das Wochenende ein paar Artikel im Internet oder in Fachzeitschriften lesen würde. Vor allem verstehe ich es nicht, warum man das Seminar dann auch noch ausgerechnet am Freitagabend beginnen lassen muss, und auch noch Hunderte von Kilometern weit weg, so dass ich mich nach der Arbeit gleich ins Auto setzen und eine Wahnsinnsstrecke mitten im Wochenendeverkehr bewältigen musste. Eine Zugfahrt oder gar einen Flug bezahlt mein Chef und Ehemann mir leider nicht.
Nun ja, es hilft ja alles nichts. Immerhin bin ich jetzt schon mal im Hotel angekommen; ein ziemlich trostloser, grauer Bau aus den 50er Jahren. Hätten die sich nicht wenigstens ein modernes Gebäude dafür aussuchen können? So eines mit Sauna und Massage und Fitnessraum? Aber nein – diese Bruchbude musste es unbedingt sein, ohne jeden Komfort. Hoffentlich gibt es wenigstens in der Umgebung ein Fitness Studio, das mich über das Wochenende als Gast aufnimmt. Erstens kann ich dort meine Aggressionen über diese unsinnige Veranstaltung abbauen beim Strampeln und Gewichtheben und Laufen, und zweitens muss ich, ich bin jetzt Mitte 30, schon verdammt aufpassen, dass ich nicht aus der Form komme und aus dem Leim gehe. Ich bin zwar noch immer so schlank wie als Teenager; aber heute kostet es mich unglaubliche Mühe, was mir früher einfach so die Natur geschenkt hat. Ohne Sport verkrafte ich das Seminar nicht. Deshalb frage ich gleich beim Einchecken an der Rezeption, ob man mir da nicht was empfehlen kann. Doch dort zuckt man nur die Achseln, weiß nichts und ist auch nicht bereit, sich um eine Antwort zu bemühen. Für einen Orstkundigen hätte es ja schließlich nur einen Blick ins Branchenbuch gekostet. Wutschnaubend packe ich meinen Overnight Case und rausche ab, in Richtung Aufzug. Ich werde für die paar Kilo Gepäck keinen Pagen beanspruchen, dem ich nachher noch fünf Euro Trinkgeld geben muss. Die Aufzugtür hat sich noch nicht ganz geschlossen, da sehe ich einen Mann in etwa in meinem Alter, ebenfalls mit kleinem Köfferchen, herbeieilen. Fast bin ich ja versucht, nichts zu tun, so dass ihm die Tür gerade so vor der Nase zugleitet, denn das ist bestimmt ein anderer Seminarteilnehmer, den ich noch früh genug kennenlernen würde, aber ab und zu kann ich ja auch mal ein höflicher Mensch sein; ich drücke auf den entsprechenden Knopf, die Aufzugtür geht wieder auf. Wofür sich der Mensch überschwänglich bei mir bedankt; immerhin ist er höflich.
Er sieht eigentlich auch gar nicht schlecht aus; obwohl ich jetzt aus der Nähe feststelle, er ist dann doch eher Mitte 40 als Mitte 30. Bei seinem Igelschnitt sieht man aber die grauen Haare nur aus der Nähe, denn er hat als Haarfarbe diesen ganz speziellen Ton blond, in dem das Grau völlig untergeht. Nur wenn man genau hinschaut glitzert es an einzelnen Stellen etwas silbrig. Ansonsten ist er groß und ziemlich kräftig. Ob das wohl Fett oder Muskeln sind? Sein Anzug sitzt perfekt und sieht teuer aus. Da ich mich für die Fahrt nicht extra schick gemacht habe, sondern ganz leger in Jeans und Pulli hier auftauche, ist mein Ledermantel das einzige, mit dem ich ihm Konkurrenz machen könnte. Den ziehe ich auch gleich fest um mich. Irgendwie wirkt dieser Mensch selbstbewusst. Mehr als selbstbewusst; aber auch nicht arrogant oder überheblich, sondern eher so, als lebe er in seiner eigenen Welt. Das macht ihn mir gleich sympathisch, dass er unsere Zufallsbekanntschaft nicht gleich zum Anquatschen ausnutzt. Andererseits lässt mich genau diese Tatsache es auch bedauern, dass er es nicht tut – und so beißt sich die Katze dann in den Schwanz und ich beiße mir auf die Unterlippe, damit ich nun nicht selbst mit irgendeinem dummen Spruch herausplatze. Nach meiner Höflichkeit scheint er einen ganz guten Eindruck von mir zu haben, den will ich nicht zerstören. Bestimmt sehe ich ihn ja nachher bei der Begrüßung der Seminarteilnehmer wieder.
In dem Punkt irre ich mich jedoch, wie ich schnell feststelle, als ich etwa eine Stunde später den Saal betrete, der durch Plakate deutlich sichtbar als unser Seminarraum gekennzeichnet ist. Zuerst einmal schnell und dann langsamer, gründlicher durchforste ich die Reihen der bereits anwesenden Seminarteilnehmer. Ich habe es mir zum Prinzip gemacht, bei solchen Gelegenheiten meistens relativ spät aufzutauchen, denn dann muss man sich weniger mit völlig Unbekannten über Belangloses unterhalten. Doch bei keinem meiner forschenden Rundblicke kann ich den grau-blonden Igelschnitt entdecken.