Es ist ein solches Klischee, dass Professoren sich in hübsche Studentinnen verlieben und umgekehrt Studentinnen in Professoren, dass es schon fast wieder war ist. Denn genau daraus ist dieses Klischee doch entstanden – aus der Wahrheit, wie sie täglich an deutschen Universitäten, und bestimmt auch an den Universitäten in jedem anderen Land passiert. Auch ich blieb von diesem Klischee nicht verschont. Es erwischte mich gleich in meinem ersten Studiensemester. Um genau zu sein, erwischte es mich sogar schon in meiner allersten Vorlesung als frisch gebackene junge Studentin. Ich hatte ziemliche Angst vor meinem Studium gehabt. Ich war in Physik immer Klassenbeste gewesen und hatte mir durch privates Studium auch ein Wissen angeeignet, wie es weit über den Horizont meiner Mitschüler hinausging. Trotzdem hatte ich noch genau die Warnung meines Physiklehrers im Ohr, dass zwischen dem Physikunterricht an der Schule und dem Studium der Physik ganze Welten lägen, die auch ich mit meinem Wissen, meiner Neugier und meiner Intelligenz nicht ohne weiteres würde überbrücken können. Überhaupt ist es für Frauen ja eher ungewöhnlich, Physik zu studieren. Es sei denn, mit dem Blick auf das Lehramt; aber ich wollte nicht Physiklehrerin, sondern Physikerin werden. Mir war schlecht vor Angst, als ich dann endlich an der altehrwürdigen Universität in einem Saal in den harten, unbequemen Holzbänken saß und meine erste Vorlesung erwartete, ausgerechnet auch noch in der Quantenphysik, dem anspruchsvollsten aller Gebiete, wie das Urteil beim Jüngsten Gericht. Über den Professor, der diese Vorlesung halten sollte, hatte ich mir vorher nur insofern Gedanken gemacht, als ich wusste, er war einer der härtesten Prüfer, dem man begegnen konnte. Was meine Angst noch steigerte. Aber über ihn als Menschen hatte ich nicht nachgedacht. Wenn ich mir diesen Menschen hätte vorstellen sollen, dann eben einfach so, wie man sich den typischen Physiker und Professor vorstellt – weltvergessen, zerstreut, mit runder Nickelbrille und einer mehr oder weniger missratenen Frisur, klein, unsportlich, in der typischen Kleidung der Nerds und Geeks.
Der Mann, der dann jedoch den Vorlesungsraum betrat, in dem ihn Dutzende an Studenten und außer mir lediglich noch zwei weitere Studentinnen erwarteten, der entsprach diesem flüchtigen Bild so massiv nicht, dass ich es zuerst überhaupt nicht registrierte, er war der Professor und nicht etwa einer der Studenten. Jung genug dafür, noch Student zu sein, sah er aus. Er war hoch gewachsen, aber nicht etwa spindeldürr, sondern recht kräftig gebaut, und zwar kräftig in Richtung muskulös und nicht etwa dick. Brille trug er keine, und auch seine Kleidung war ganz und gar nicht die von einem Nerd. Er trug nämlich eine Biker-Kombi! Doch, ungelogen, dieser Prof kam mit Lederkombi und Lederstiefeln in den Saal, mit einem Motorradhelm unter dem Arm, den er auf dem Pult abstellte. Daran merkte ich dann erst, dass er wirklich der Dozent war. Zu diesem Zeitpunkt war es aber bereits zu spät – ich hatte mich bereits unsterblich in diesen extrem gutaussehenden Mann verliebt. Seine Haare waren das Einzige, was wenigstens ansatzweise meiner Vorstellung eines Physikprofessors entsprach – sie waren lang und wirr, und sahen aus, als hätten sie schon viel zu lange keinen Friseur mehr gesehen. Das kann aber auch am Motorradhelm gelegen haben … Er hielt sich nicht lange mit Vorreden oder so etwas auf, machte sich nicht einmal die Mühe, uns als neue Studentinnen und Studenten vielleicht erst einmal zu begrüßen, sondern er begann gleich mit der Vorlesung. Dabei stellte ich zwei Dinge fest, und ich weiß nicht, worüber ich mich mehr freute. Zum einen hatte er eine fantastische Stimme; ganz dunkel und angenehm und erotisch. Stundenlang kann ich einer solchen Stimme zuhören und muss höchstens aufpassen, dass ich außer auf das Timbre auch auf die inhaltlichen Aussagen achte. Das zweite war, dass diese Vorlesung zwar schon in den ersten Sätzen tatsächlich Welten entfernt war selbst vom Physikunterricht in der Abiturklasse, ich aber trotzdem keine Mühe hatte, allem zu folgen. Das Wissen, das ich mir privat angeeignet hatte, schien entgegen der Warnungen meines alten Physiklehrers die ungeheure Wissenskluft zwischen Schule und Uni doch ohne weiteres überbrücken zu können. Ich hätte jubeln und auf dem Tisch tanzen können. Stattdessen saß ich aber natürlich ganz brav da und lauschte dem, was dieser süße Kerl da vorne von sich gab. Ich saugte es auf wie ausgetrocknete Erde den Regen. Einmal wegen seiner Stimme, aber dann natürlich auch, weil Physik mich wirklich fasziniert. Sonst wäre ich ja schließlich auch keine Physikstudentin!