Schon letzte Woche war mir dieser schlanke, nicht mehr junge Mann aufgefallen. Wobei sein Alter wirklich schwer zu schätzen war; seine Haare, relativ lange, sie fielen ihm bis fast auf die Schultern, und lockig, waren bereits fast vollständig ergraut, doch sein Gesicht wirkte jung. Jung – und angespannt. Anfangs, als ich ins Schwimmbad kam, um meine wöchentliche halbe Stunde Schwimmen zu absolvieren, lehnte er am Rand, starrte vor sich hin. Direkt neben der freien Bahn, die ich mir ausgesucht hatte. Doch es wirkte so, als sehe er gar nichts. Das weckte mein Interesse. Wer geht schon tagsüber schwimmen, außer Rentnern und Hausfrauen wie mir?
Das heißt, ich bin nicht nur Hausfrau, ich habe auch einen Job, allerdings nur stundenweise. Deshalb kann ich es mir trotzdem leisten, tagsüber meine Schwimmrunden zu drehen, wenn sonst kaum jemand im Schwimmbad ist, am späten Morgen. Das ist etwas, worum mein Mann, ein leidenschaftlicher Schwimmer, mich immer beneidet. Für die Schüler ist es da noch zu früh, die kommen erst nachmittags. Die Mütter mit kleinen Kindern, für die gibt es in diesem Schwimmbad einen gesonderten Tag mit Mutter-und-Kind-Schwimmen, die sieht man außerhalb dieser Zeiten nur selten. Und alle anderen Leute sind um diese Zeit am Arbeiten. Deshalb habe ich mir ja diese Zeit fürs Schwimmen ausgesucht, weil man dann oft das Schwimmbad fast für sich allein hat. Es sind nur wenige Besucher da, und man findet fast immer eine freie Bahn, wenn man schwimmen und nicht einfach nur entspannen will.
Nicht dass ich etwas gegen andere Leute hätte – aber ich komme nun einmal hierher, um wirklich zu schwimmen; ausdauernd, auspowernd. Das kann man nur, wenn sonst nicht allzu viel los ist, sonst muss man sich ständig zwischen denen herum schlängeln, die nur am Rand stehen, in der Mitte herum planschen oder sonst etwas tun. Die Rentner schwimmen ja meistens nicht, sondern sie stehen nur irgendwo im Wasser herum. Das kann auch mal ganz schön nervig sein, wenn sie sich einem mitten in die Bahn stellen, aber dann sucht man sich eben eine andere Bahn. Rentner allerdings konnte er unmöglich schon sein; trotz seiner grauen Haare war er dafür einfach zu jung. Aber was tat er dann hier mitten am Tag? Die Ferienzeit ist längst vorbei. Jedenfalls, er fiel einfach auf; wegen seines scharf geschnittenen Gesichtes, wegen der Inkongruenz zwischen einem jungen Gesicht und grauen Haaren, wegen der Tatsache, dass er überhaupt da war – und weil er sich für nichts zu interessieren schien, was um ihn herum vor sich ging. Als die Hälfte meiner Zeit vorbei und ich schon gewaltig außer Puste war, setzte er auf einmal ebenfalls zum Schwimmen an, und zwar im Delfinstil. Er drückte sich vom Rand ab, als ich gerade neben ihm auf einer freien Bahn anschlug und umdrehen wollte. Beeindruckend geschickt und beeindruckend schnell zog er seine Bahnen, und er war soviel schneller, dass ich bald nicht nur ein Stück weit hinten lag, im Vergleich zu ihm, sondern mehr als eine ganze Bahn.
So kam es, dass wir uns nun irgendwo auf der Strecke immer begegneten. Er sah mich nicht, denn er war ja damit beschäftigt, einen perfekten Delfin hinzulegen, aber ich beobachtete ihn jedes Mal intensiv. Mein Schwimmen ist so eine Art Oma Schwimmen; Brustschwimmen mit dem Kopf über Wasser. Nicht etwa, weil ich Angst vor dem Wasser oder um meine Frisur hätte, aber so habe ich es gelernt, und so finde ich es auch am angenehmsten. Noch bevor meine halbe Stunde um war, stieg er am Ende der Bahn aus dem Wasser – und war verschwunden. Obwohl er mich ja nun überhaupt nicht beachtet hatte, ging mir dieser Mann nicht mehr aus dem Kopf. Ich grübelte darüber nach, was wohl mit ihm sein konnte, dass er zu einer so ungewöhnlichen Zeit so einsam im Schwimmbad herumlungerte. Bis zur Woche darauf hatte ich ihn allerdings dann doch wieder vergessen – bis ich, als ich in die Schwimmhalle kam, doch wieder sein markantes Gesicht wahrnahm. Wieder lehnte er am Rand, wie in der Woche zuvor, wieder starrte er vor sich hin. Diesmal mied ich jedoch seine Nähe. Irgendwie verwirrte mich seine Anwesenheit, machte mich durcheinander. Ohne dass ich jetzt so genau hätte sagen können weshalb. Ich schwamm meine halbe Stunde und versuchte dabei, ihn möglichst wenig zu beachten.
Erneut begann er mit seinem Training, als ich etwa die Hälfte meiner Zeit hinter mir hatte, nur war es an dem Tag kein Delfinschwimmen, sondern ein simpler Kraulstil, den er zum Besten gab. Mit viel Mühe gelang es mir, mich nicht auf ihn zu konzentrieren und nicht darauf zu achten, um wie viel schneller er war als ich. Ich war richtig erleichtert, als er dann plötzlich wie in der Woche zuvor verschwunden war. Als Ausgleich dafür, dass er mich aus unerfindlichen Gründen so nervös gemacht hatte und ich deshalb nicht halb so entspannt war wie sonst nach dem Schwimmen, gönnte ich mir anschließend ans Schwimmen noch eine Runde Solarium. Es gibt leider nur vier Solarienplätze in diesem Schwimmbad, und die sind oft belegt, selbst am Morgen – doch ich hatte Glück, ein Platz war noch frei. Direkt neben ihm; meinem Grauhaarigen mit der Adlernase. Zuerst wollte ich auf dem Absatz meiner Flip-Flops kehrtmachen und gleich wieder umdrehen, doch dann ärgerte ich mich über mich selbst. Wie kam es bloß, dass ein Unbekannter, der keinen Blick für seine Umgebung hatte, mich so nervös machen konnte? Beinahe trotzig packte ich mich neben ihm auf die Matte und genoss das wohlige Gefühl der künstlichen Sonne. Irgendwann nahm ich neben mir Bewegung wahr, ohne sie zu sehen; ich hatte die Augen genießerisch geschlossen. Dann öffnete ich sie, um mich zu überzeugen, dass ich recht gehabt hatte – ja, „er“ war am Aufbrechen, bewegte sich bereits auf die Treppe nach unten zu, zurück in die Schwimmhalle und zu den Duschen und Umkleidekabinen zu.