Diesmal will ich Silvester allein verbringen, mich spätestens gegen zehn ins Bett legen, die Decke über den Kopf ziehen und alles verschlafen; Feuerwerk, Silvesterpartys, Dinner for One und alles, was sonst zu Silvester noch so alles dazugehört. Das war so ein beschissenes Jahr, das will ich lieber gar nicht erleben, wie es sich mit viel Fröhlichkeit und Krach verabschiedet. Im Juli hat mein Freund mich sitzen lassen. Nach ein paar wirklich hässlichen Szenen.
Wochenlang hat er mir erklärt, wie hässlich ich bin, wie furchtbar ich bin, und dass man es mit mir überhaupt nicht mehr aushält – und dann hat er irgendwann gesagt, es ist aus. Daraufhin habe ich ihm auch noch ein paar hässliche Szenen gemacht; aber nur per Telefon, denn treffen wollte er mich nicht mehr. Und am Telefon ist das alles nicht halb so wirksam wie wenn man sich gegenüber steht. Jedenfalls habe ich seitdem von Männern die Nase voll. Wenn ich ehrlich bin, trauere ich immer noch, obwohl das jetzt schon Monate her ist. Ich trauere nicht im eigentlichen Sinn ihm hinterher; er hat sich in der letzten Zeit vor der Trennung wirklich wie das letzte Arschloch benommen, und das könnte ich ihm ohnehin nie verzeihen. Selbst wenn er jetzt auf Knien angekrochen käme und mich anflehen würde, ihn zurückzunehmen, ich würde es nicht tun. Aber ich trauere trotzdem. Außerdem leide ich unter den Folgen desselben Fehlers, den viele Frauen machen. Ich habe für meinen Freund alles aufgegeben. Meinen alten Job, meine alte Wohnung, meine Freunde. Nur um ihm näher sein zu können, denn selbst über 50 km ist eine Fernbeziehung ziemlich mühsam, bin ich in diese Stadt gezogen, die mir jetzt fremd und feindlich vorkommt, und in der ich kaum jemanden kenne. Er hat seine Freunde, seinen Job und seine Wohnung natürlich behalten. Seine Freunde waren auch alle sehr nett zu mir und bereit, mich in ihren Kreis aufzunehmen – allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, wo er mich verlassen hat. Danach habe ich von keinem von denen etwas gehört. Und weil ich in der ersten Zeit unserer Beziehung, als ich noch glücklich war, meine alten Freunde in der anderen Stadt ziemlich vernachlässigt hatte, konnte ich dann auch schlecht angekrochen kommen, als es mir schlecht ging, und darum betteln, dass man die Freundschaft wiederbelebt. Außerdem ist es eben so eine Sache , wenn man 50 km auseinander lebt. Spontane Treffen sind da ausgeschlossen, und so bleibt alles sehr oberflächlich oder man verliert sich ganz aus den Augen.
Deshalb bin ich dieses Jahr auch zu keiner Silvesterfeier eingeladen und muss den Abend notgedrungen allein verbringen. Nun hätte ich natürlich selbst zu Silvester eine Party geben können und ein paar meiner Arbeitskollegen einladen und vielleicht auch ein paar Nachbarn hier aus dem haus – aber erstens hatte ich dazu keine Lust, und zweitens waren die meisten ohnehin schon woanders eingeladen, wie ich mitgekriegt habe. Nein, an einem einsamen Silvester führt dieses Jahr kein Weg dran vorbei. Und wenn es denn so sein soll, dann ist das vielleicht auch ganz gut so. Ich habe mir Schweinelende besorgt, Kroketten und Salat, da werde ich mir erst was Leckeres kochen, anschließend ein Glas Wein trinken, damit ich die nötige Bettschwere habe, und dann schlafen gehen, so habe ich mir das überlegt. Tja, von wegen! Erstens kommt es anders, und zweitens, als man denkt! Seit halb zehn liege ich nun im Bett – jetzt ist es kurz nach zehn -, fühle mich eigentlich ganz gut, nach dem köstlichen Essen, fühle mich auch müde, nach dem schweren Wein – aber von Schlafen kann keine Rede sein. Mein direkter Nachbar links feiert nämlich eine Party. Seine Silvesterparty ist nicht einmal besonders laut; aber leider sind in dem Gebäude die Wände papierdünn, und so höre ich die Musik, die dort läuft, als ob eine Band direkt in meinem Zimmer stünde. Außerdem kann ich Lachen und Reden hören. Merkwürdigerweise allerdings nur von Männern; eine weibliche Stimme ist da nicht dabei. Hat der keine Frauen eingeladen, oder sind die alle ganz mucksmäuschenstill? Ich grübele darüber nach, um mich nicht stattdessen zu ärgern, dass man an Silvester anscheinend einfach nicht in Ruhe gelassen wird. Und wenn man noch so fest entschlossen ist, einen ruhigen Abend zu verbringen, an Silvester ist das ganz offensichtlich nicht möglich. Ich überlege gerade, ob ich mir vielleicht meine Kopfhörer holen soll. Nicht zum Musikhören, sondern eher als so eine Art Ohrenstöpsel, um den Krach von nebenan auszublenden, da klingelt es.
Fluchend springe ich aus dem Bett. Wer wagt es, mich ausgerechnet an Silvester zu stören? Ich bin so sauer darüber, nicht in Ruhe gelassen zu werden, dass ich aus Trotz nicht einmal einen Bademantel über werfe. Soll der Störenfried doch ruhig sehen, dass er mich aus dem Bett geholt hat! Ich knipse im Flur das Licht an und reiße die Tür auf. Davor steht mein Nachbar von links. Na, dem wird ich aber was husten, so laut Musik zu hören! Schließlich ist es jetzt schon Schlafenszeit, Silvester hin oder her! Und dann auch noch zu klingeln! Ich öffne gerade den Mund, um eine ziemliche Schimpfkanonade vom Stapel zu lassen, da fällt mir auf, dass er mich gar nicht ansieht. Vielmehr, er sieht mich schon an, aber sein Blick ist nicht auf mein Gesicht gerichtet, sondern auf meine Beine. Ich sehe an mir herab, bemerke, wie dünn der Stoff meines Nachthemds ist – und nun fällt mir auch auf, dass mein Flurlicht mich von hinten beleuchtet und sicherlich nicht nur den Stoff zeigt, sondern auch meine Beine darunter durchschimmern lässt, die mein Nachthemd immerhin bis weit über das Knie bedeckt. Das erstickt meine Gardinenpredigt im Keim. „Was willst du?„, frage ich stattdessen nur ungnädig. Mein Nachbar heißt Leon, und wir duzen uns, so haben wir das abgesprochen, als wir uns das erste Mal begegnet sind – obwohl wir nicht viel miteinander zu tun haben. „Ich wollte … ich dachte … ich meine …„, stammelt er. Wider Willen muss ich lachen. „Was ist los? Braucht ihr noch Wein für eure Feier? Ich hab noch eine Flasche da, aber die ist schon angebrochen und wird euch auch nicht viel weiterhelfen.“ Er schüttelt den Kopf. „Nein, nein – zu essen und zu trinken habe ich genug da. Wir hatten uns nur überlegt … weil du doch so allein in deiner Wohnung sitzt … ob du nicht vielleicht … zu uns rüberkommen willst?“ Endlich sieht er mir direkt in die Augen. Er ist tierisch verlegen, hat wohl mitbekommen, dass er mich gestört hat. Was ja auch kaum zu übersehen ist, wenn man nach zehn jemanden im Nachthemd an die Tür holt. Selbst wenn es in der Silvesternacht ist.
Dennoch rührt mich seine Geste. Er hat auf seiner eigenen Feier, also wohlversorgt mit Gesellschaft und guter Laune, daran gedacht, dass ich nebenan allein sitze und wollte mich aufmuntern, will mich einladen, einfach mitzumachen. Das ist lieb gemeint, da kann ich jetzt nicht einfach mürrisch ablehnen. Ablehnen will ich trotzdem; ich habe keine Lust, unter lauten, beschwipsten, fröhlichen Menschen zu sein. Aber ich sollte es auf eine nette Art tun. „Bist du sicher, dass du mich dabei haben willst?„, höre ich mich da zu meiner eigenen Überraschung selbst sagen. „Ich bin momentan keine besonders angenehme Gesellschaft.“ Er grinst. „Ach, weißt du, Carola„, erwidert er, „du hast diesem Mistkerl jetzt lange genug hinterher getrauert. Es wird Zeit, dass du mal wieder an dich denkst und Spaß denkst.“ Mir bleibt vor Verblüffung der Mund offen stehen. Wie kommt es, dass sich mein Nachbar so viele Gedanken um mich macht, und ich habe es nicht einmal bemerkt, habe ihn nie groß zur Kenntnis genommen?