Ich wusste es schon immer, in der Theorie zumindest, dass man aufpassen muss, wenn man als junges Mädchen von knapp 20 abends noch alleine unterwegs ist. Vor allem, wenn man dabei manchmal noch im Dunkeln eine Weile an einsamen Bushaltestellen warten muss … Da kann dir alles Mögliche geschehen, hat meine Mutter immer gesagt; aber es half ja alles nichts, es musste sein. Ich bin junge Studentin im zweiten Semester. Meine Eltern sind nicht reich genug, mir mein Studium zu finanzieren, und nicht arm genug, dass ich Bafög bekomme. Da muss ich schon selbst ein bisschen was dazuverdienen. Also brauche ich einen Job, den ich vorwiegend abends machen kann, denn tagsüber muss ich ja studieren. Der einzige Job, den ich nach langer Suche gefunden habe, das war eine Putzstelle. Mein Vater hat mir diesen Studentinnenjob besorgt. Ich muss in der Firma, in der er arbeitet, nach Feierabend die Büroräume putzen. Die waren froh, dass ich dazu bereit war, denn das kam sie mit einer Studentin viel billiger, als wenn sie eine normale Putzkolonne genommen hätten. Vor allem haben sie dann auch sehr schnell festgestellt, dass ich weit zuverlässiger bin als eine Putzfirma; ich putze wirklich alles sehr gründlich. Zum Glück ist die Firma nicht so riesig; es ist nur ein Teil von einem Stockwerk in einem großen Gebäude, aber ein paar Stunden brauche ich schon, bis ich mit allem fertig bin, und ich kann ja erst nach sechs abends anfangen, wenn die Angestellten Feierabend haben. Von den Chefs ist manchmal sogar bis neun oder so noch jemand da, und erst anschließend kann ich in deren Zimmer. Deshalb komme ich oft um zehn oder um elf, manchmal sogar noch später aus dem Gebäude. Die Firma ist natürlich mitten im Gewerbegebiet; da wohnt keiner, und meistens sind die Straßen um diese Zeit total leer, wenn ich zur Bushaltestelle auf der Hauptstraße marschiere. Das kann richtig unheimlich sein, wobei mich das eigentlich nie gestört hat. Weil nachts auch nicht mehr so oft Busse fahren, stehe ich dann manchmal noch bis zu einer halben Stunde an der Haltestelle; an einem Ort, an den sich auch garantiert kein Fußgänger verirrt, und wo außer mir kaum jemals ein anderer auf den Bus wartet. Ein Auto kann ich mir leider nicht leisten; zu Fuß ist der Weg zu weit, und Fahrradfahren hasse ich, deshalb bleibt mir aber keine andere Möglichkeit. Ich fand es sehr unbequem, aber Angst habe ich eigentlich nie gehabt. Trotz der Warnungen meiner Mutter und der theoretischen Erkenntnis, dass es gefährlich ist, spät abends alleine zu warten, bin ich nie davon ausgegangen, dass mir wirklich etwas passieren könnte. Bis die Realität mich eines Besseren belehrt hat.
Es war an einem Freitagabend, und zwar letzte Woche. Diesmal hatte es in der Firma eine Krise gegeben, es waren noch etliche der Mitarbeiter da gewesen, bis sich dann kurz vor elf endlich auch die letzten Büros leerten und ich meine Arbeit beenden konnte. Es war schon nach halb zwölf, als ich das Gebäude verließ und in Richtung Bushaltestelle marschierte. Es war ziemlich windig, wenn auch nicht richtig kalt, wie üblich sah ich keinen Menschen, und ein paar der Straßenlaternen waren ausgefallen, so dass lediglich der zum Glück fast volle Mond meinen Weg beleuchtete. In einem Film hätte mich eine solche Atmosphäre richtig gegruselt, aber in meiner Ahnungslosigkeit lief ich ohne Furcht den Bürgersteig entlang und dachte nur an eines – an das heiße Bad, das ich mir gleich gönnen wollte, wenn ich zu Hause war. Auf einmal hörte ich Schritte. Oder ich bildete mir wenigstens ein, Schritte zu hören. Ich blieb stehen und horchte, doch da war nichts. In diesem Augenblick überfiel mich das erste Mal etwas wie Angst. Da war ich richtig froh, als ich kurz darauf sah, wie an der Bushaltestelle gleich mehrere Leute warteten. Ich war also nicht allein; es gab keine Gefahr. Das dachte ich – bis ich dann näher herangekommen war und sah, dass die fünf Personen, die da in dem Glashäuschen standen, alles junge Männer in etwa in meinem Alter oder vielleicht etwas älter waren. Obwohl das alleine eigentlich kein Grund zur Sorge hätte sein müssen, hatte ich doch gleich ein extrem ungutes Gefühl. Es war nicht die Tatsache, dass es alles Männer waren – wobei ja jeder weiß, dass Männer in der Gruppe weit mutiger sind, als wenn sie einem alleine gegenüberstehen, und da auch schon mal alle Grenzen überschreiten -, es war auch nicht ihr Alter, und es war nicht ihre Kleidung, die völlig normal war. Es war eher etwas Undefinierbares; die Stimmung, die von dieser Männergruppe ausging. Das stimmte mich so unbehaglich, dass ich einen kurzen Augenblick sogar überlegte, einfach in der anderen Richtung davon zu marschieren. Nur war das erstens die entgegengesetzte Richtung zum Haus meiner Eltern, in dem ich noch wohnte, und zweitens hatte ich keine Ahnung, wo da die nächste Bushaltestelle kommen würde. Mich einfach ins Unbekannte hineinzubegeben, das schmeckte mir nicht mehr, als mich zu den jungen Männern zu gesellen. Immerhin gab es eine Laterne direkt am Wartehäuschen, es war also hell, und es konnte höchstens noch eine Viertelstunde dauern, bis der Bus kam. Das würde ich schon irgendwie heile überstehen, redete ich mir ein.