Irgendwie hatte ich zu dem Richter, bei dem ich einen Teil meines Referendariats verbrachte, gleich einen richtig guten Draht. Er schien ein absolut unkomplizierter und netter Mensch zu sein, und er sah auch alles nicht so schrecklich verbissen, wie manche andere Juristen, die ich im Laufe meines Jurastudiums und meiner Referendarzeit kennengelernt hatte. Außerdem sah er auch einfach gut aus. Für einen Mann Ende 40 hatte er sich sehr gut gehalten, war noch recht schlank, mit nur einem ganz kleinen Ansatz an Bierbauch, und gut in Form. Er hatte schwarze Haare mit nur einem leichten Anflug von grau und einen Bart, der ihn fast in so etwas wie einen Piraten verwandelte vom Aussehen her.
Er kleidete sich auch nicht so steif und förmlich, wie man das sonst von Richtern gewohnt ist. Und er hatte eine Art, mich ab und zu mit seinen ganz dunklen Augen anzufunkeln, das machte einfach gute Laune. Bei ihm machte es immer Spaß zu sein und wir unterhielten uns auch mal über andere Sachen als die Arbeit. So bekam er auch schnell heraus, dass ich nicht aus der Gegend stammte, in der das Amtsgericht lag, und mich überhaupt nicht auskannte dort. Das nahm er zum Anlass, mir ab und zu einmal etwas über die Sehenswürdigkeiten und Besonderheiten zu erzählen; zum Beispiel einen ganz berühmten Brunnen oder vielmehr einer Quelle mitten im Wald, der gar nicht so weit weg vom Gericht zu finden war. Auch den kannte ich natürlich noch nicht. So kam es, dass er irgendwann nachmittags, als wir mit der Besprechung der nächsten Gerichtsverhandlungen am darauf folgenden Tag sehr früh fertig waren und eigentlich nichts mehr zu tun war, auf einmal vorschlug, wir sollten doch einmal schnell zu diesem Brunnen fahren, damit ich den wenigstens mal gesehen hatte.
Ich hatte zwar gleich ein etwas komisches Gefühl bei diesem Vorschlag, aber andererseits war ich sehr gerne mit ihm zusammen und hatte überhaupt noch keine Lust, nach Hause zu fahren. Deshalb stimmte ich zu. Wir beschlossen, seinen Wagen zu nehmen, einen sehr geräumigen Mittelklassewagen, weil der einfach bequemer war als mein schon reichlich mitgenommener Kleinwagen. Es gefiel mir, da in den tiefen Sitzen zu entspannen, rundum bequem und kein Vergleich zu meinem Auto, und ihn heimlich anzusehen. Er fuhr sehr sicher. Es war warm, und schon bevor ich gekommen war, hatte er sein Jackett und seine Krawatte ausgezogen und sich die Ärmel seines Hemds hoch gekrempelt. Dunkle Haare zogen sich über seinen muskulösen Unterarm direkt neben mir, und ich spürte den Wunsch in mir, mit den Fingern über diese Haare zu streichen. Ebenso wie ich schon oft den Wunsch verspürt hatte, seine vollen, fantastisch geschwungenen Lippen auf meinen zu spüren … Oder die Arme um ihn zu legen … den Kopf gegen seine Schulter zu lehnen …
Natürlich hatte ich diesen Wünschen noch nie nachgegeben. Das tat man einfach nicht – man fing nichts mit einem Ausbilder an. Das gehörte sich einfach nicht. Außerdem war er natürlich verheiratet; ich hatte sogar seine Frau einmal kennengelernt, auf irgendeiner Juristenfeier, zu der mich mein damaliger Ausbilder mitgenommen hatte. Sie sah ziemlich blass und verhärmt aus. Es war der totale Kontrast zu seiner sprühenden Lebensfreude und Vitalität, und da er mir schon an diesem Abend gut gefallen hatte, hatte ich mich gleich gefragt, wie denn ein so kraftvoller Mann und ein so blasses Weibchen wohl miteinander zurechtkamen. An seine Frau wollte ich allerdings auf der Fahrt zum Brunnen nicht denken; ich wollte einfach das Zusammensein mit ihm genießen, und wenn es noch so harmlos war. Ich achtete überhaupt nicht auf den Weg, denn ich wusste ja, er kannte sich aus. Ich verließ mich einfach auf ihn. Schon bald bog er mitten von einer Landstraße ganz scharf links ab und fuhr auf einen Waldparkplatz. Wir stiegen aus, er übernahm die Führung – und da war er, der berühmte Brunnen. Fassungslos und enttäuscht sah ich mich um.
Da war nichts außer einer ziemlich trübsinnigen Stelle, nackter, kahler Boden, ein paar Bäume, ein paar Sträucher, und dann sprudelte irgendwo eine Quelle. Eine so winzige Quelle, dass ich sie glatt übersehen hätte, wenn ich nicht gewusst hätte, worauf ich achten musste. „Und das ist dieser berühmte Brunnen?„, fragte ich ungläubig. Mein piratenhafter Richter lachte. „Ja, das ist dieser berühmte Brunnen„, erwiderte er. „ich gebe zu, er macht nicht viel her. Was ihn zu etwas so Besonderem macht, das ist seine Geschichte, nicht sein Aussehen.“ „Das kann ich verstehen„, gab ich schnippisch zurück, „denn das ist nun wirklich überhaupt nichts Besonderes.“ „Tja„, meinte er, „dann muss ich wohl etwas tun, um diese Enttäuschung auszugleichen.“ Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinen konnte, und schaute ihn fragend an. „Das müsste ich dir zeigen, wenn wir wieder zurück am Auto sind„, meinte er. Ich zuckte die Achseln. Eigentlich gefiel mir diese Entwicklung nicht unbedingt. Ich hatte gehofft, wir gehen vielleicht noch eine Runde spazieren oder so etwas, verbringen noch eine gewisse Zeit zusammen. So schnell hatte ich noch nicht zum Wagen zurückgehen wollen. Aber die versprochene Überraschung reizte mich schon.