In unserem Hochhaus sind wir die Hausfrauen Riege. Wir beherrschen das gesamte Erdgeschoss und den ersten und zweiten Stock, reife Hausfrauen, die zum Teil schon zehn, 20 Jahre oder länger hier leben. Über uns wechseln die Mieter öfter, und da ziehen natürlich auch mal junge Mieter ein, aber wir von den unteren Etagen, wir sind alles Frauen ab 40, die meisten von uns sogar schon Mitte oder Ende 40. Also wirklich reife Frauen.
Natürlich gibt es in den meisten Fällen auch noch die passenden Ehemänner, aber die sind ja den ganzen Tag außer Haus, am Arbeiten und am Basteln an ihrer Karriere, und einige von uns sind auch alleinstehende reife Frauen. Manche sind geschieden, sogar eine Witwe gibt es unter uns. Scherzhaft nennt sie sich immer die „lustige Witwe“ – und genau das ist sie auch. Wie aber eigentlich alle von uns; lustige Witwen, auch wenn wir gar keine Witwen sind. Und wir sind eine verschworene Gemeinschaft. Die vielen Jahre, die wir auch, als wir noch nicht reife Hausfrauen waren, sondern junge, begeisterte Ehefrauen, immer alleine in diesem anonymen Hochhaus verbracht haben, nur mit den anderen Hausfrauen als Gesellschaft, haben uns wirklich zusammengeschweißt. Wir sehen uns täglich, und wir unternehmen auch sehr viel miteinander.
Vor allem haben wir halt den Vorteil, dass es unten im Erdgeschoss eine riesige Terrasse gibt, die sich um die gesamte Rückfront des Hauses zieht. Dort sind wir im Sommer fast immer zu finden, wenn wir uns nicht gerade um die Hausarbeit kümmern müssen. Dadurch, dass eben wir reife Hausfrauen alle Wohnungen im Erdgeschoss belagert haben und wir sehr gute Freundinnen sind, teilen wir vom Erdgeschoss einfach die Terrasse mit den Frauen von weiter oben, die nur einen Balkon besitzen; gerade im Sommer ja nicht halb so schön wie eine Terrasse. Die Terrasse ist einfach unser Reich, den ganzen Sommer über. Sozusagen das Paradies für uns reife Hausfrauen. Es gibt zwischen den Terrassenteilen, die zu den einzelnen Wohnungen gehören, auch keine Absperrungen. Alles ist für jeden frei zugänglich. Oder vielmehr, genauso war es – bis dann vor zwei Monaten Gudrun ausgezogen ist. Es gab reichlich Tränen zu ihrem Abschied, und sie selbst wäre auch am liebsten geblieben. Aber nachdem ihre Kinder alle aus dem Haus waren, hatte ihr Mann einfach beschlossen, sich beruflich zu verändern. Das erforderte einen Umzug in eine andere Stadt – und sie musste wohl oder übel mitkommen, etwas anderes blieb ihr nicht übrig. Sie hätte sich höchstens scheiden lassen können – aber was kann eine geschiedene reife Hausfrau, die jahrelang wegen der Kinder nicht gearbeitet hat, schon vom Leben erwarten?
Dummerweise wohnte Gudrun mit ihrem Mann auch noch etwa in der Mitte der Wohnungen im Erdgeschoss. Deshalb waren wir natürlich umso gespannter, wer nun an ihrer Stelle einziehen würden. Heimlich hofften wir auf eine weitere reife Hausfrau, die wir gerne sofort in unseren Kreis aufgenommen hätten. Es war allerdings keine Hausfrau, es war nicht einmal eine Frau, die zwei Wochen nach Gudruns Auszug dort einzog, sondern es war ein Mann. Ein junger Mann, höchstens Anfang 30. Da war die Enttäuschung unter uns reifen Ladys natürlich groß. Zuerst störten wir uns allerdings nicht weiter daran, obwohl der Sommer gerade erst angefangen hatten, denn wir gingen fest davon aus, dass er ja ohnehin den ganzen Tag nicht zu Hause sein würde, wir also die Terrasse unten dennoch weitgehend für uns haben würden. Aber von wegen – es stellte sich heraus, der junge Mann war Schriftsteller – und er arbeitete den ganzen Tag zu Hause. Am liebsten draußen auf der Terrasse, mit seinem Notebook. Das brachte unseren gewohnten Tagesablauf nun natürlich gewaltig durcheinander. Nun war ständig ein Fremder anwesend, ein Mann, und wir konnten uns einfach nicht mehr so ungezwungen benehmen wie die ganzen Jahre zuvor. Zuerst versuchten wir ja noch, den „Neuen“ freundlich aufzunehmen, aber nachdem er mehrfach mit der Begründung, er müsse arbeiten, diverse Einladungen zum Kaffee ausgeschlagen hatte, kümmerten wir uns nicht weiter um ihn und beschlossen, einfach so zu tun, als sei er gar nicht da.
Das war allerdings leichter gesagt als getan; nicht nur dass wir nun vom Platz her schon massiv eingeschränkt waren, weil wir uns ja nun nicht mehr einfach über die gesamte Hausfront ausbreiten konnten – so mussten wir uns entweder mit bloß der Hälfte des früheren Platzes bescheiden, oder aber uns in zwei Gruppen aufteilen -, wir fühlten uns auch ständig beobachtet. Und waren wir vorher öfter auch mal oben ohne oder zumindest sehr luftig gekleidet auf der Terrasse herumgelaufen, die von außen kaum einsehbar ist, so achteten wir jetzt sorgfältig darauf, anständig gekleidet zu sein. So machte das alles irgendwie keinen Spaß mehr. Petra war es, die irgendwann ganz entnervt meinte, unser Paradies sei zum Albtraum geworden. Und Petra war es auch, die vorschlug, wir sollten doch einfach so tun, als wäre dieser Schriftsteller überhaupt nicht da – denn sonst würden wir nie wieder Freude an unserer Terrasse haben. Wir versuchten es, aber anfangs fiel es uns noch ziemlich schwer, ihn zu ignorieren. Er saß halt auch den ganzen Tag da, an seinem Gartentischchen mit dem Notebook darauf und dem Sonnenschirm darüber. Erst das heiße Wetter half uns auf die Sprünge. Je heißer es wurde, desto gleichgültiger wurde uns unsere Umgebung.