Ich habe selten eine Frau getroffen, die mir so imponiert hat wie Marina. Das lag zwar sicherlich auch an ihrem Alter, aber nicht nur. Als ich als junger Anwalt in die Kanzlei eintrat, in der sie die Nummer 2 direkt nach dem Gründer und Boss war, mit 28, da war Marina schon 52. Natürlich hatte sie mir somit Jahre an Erfahrung im Anwaltsberuf voraus und wirkte schon deshalb sehr beeindruckend auf mich. Außerdem gehöre ich noch zu der Generation, der man den Respekt vor der Reife beigebracht hat. Reife Frauen – und reife Männer natürlich auch! -, unabhängig davon, welche gesellschaftliche Position sie haben, wären für mich immer Wesen, denen ich extrem höflich und zuvorkommend begegne, und das war auch damals so, als ich nach dem zweiten juristischen Staatsexamen als Anwalt anfing.
Aber es war noch mehr, was Marina in mir auslöste, und das hing, das muss ich einfach mal so sagen, zum Teil mit ihrem Äußeren zusammen. Ich war in kleinen Verhältnissen aufgewachsen und musste vieles erst mühsam lernen. Gute Tischmanieren nicht nur bei Pellkartoffeln und Hering, sondern auch bei Lobster. Welche Strümpfe und Schuhe man zu welchem Anzug trägt. Welche Stoffe bei einem Anzug elegant wirken, und welche einfach nur schäbig. Die Kunst, sich so zu kleiden, dass es etwas hermachte, die war mir nicht in die Wiege gelegt worden, sondern ich musste sie mir erst aneignen. Ganz anders war das bei Marina. Sie war wahrscheinlich damit geboren worden, denn sie war die Tochter eines überaus erfolgreichen Unternehmers, der zu der Zeit, als sie 52 war, zwar bereits 78 war, aber immer noch aktiv in seinem riesigen Betrieb, den er sich auch hartnäckig weigerte zu verkaufen. In dieser Familie hatte es einfach Geld, und ganz bestimmt hatte Marina die beste Erziehung genossen, nicht nur, was die Schulbildung anging, sondern auch die Umgangsformen, die Kleidung, und was höhere Töchter so alles beherrschen müssen. Denn genau als das, als höhere Tochter, würde ich sie jetzt mal bezeichnen; im besten Sinn. Marina war immer die Vollkommenheit in Person, abgeklärt, ruhig und kühl, immer perfekt frisiert, perfekt geschminkt, und perfekt angezogen. Da saß nie ein Härchen schief, da passte beim Outfit immer alles zusammen, und der Gesamteindruck war der einer überaus eleganten und gepflegten Lady. Man vergaß sogar ihr Alter, wenn man sie sah, denn da sie für reife Frauen noch ausgesprochen schöne Beine hatte und darauf achtete, dass ihre Kleidung auch zu ihr passte, wirkte sie wie eine mindestens zehn Jahre jüngere Frau. Wie eine attraktive Frau von knapp über 40. Die, und zwar absolut zu recht, sehr selbstbewusst war und sich bewegte wie eine Königin, die weiß, dass ihr alle Menschen zu Füßen liegen. Und die das auch als ihr gutes Recht in Anspruch nimmt, die Unterwürfigkeit der anderen.
Das alles zusammen, ihr modisches Outfit, ihr gepflegtes Aussehen, ihre selbstbewusste Ausstrahlung, ihre berufliche Erfahrung, das sorgte dafür, dass ich anfangs in ihrer Gegenwart kaum einen Ton herausbrachte. Sie schüchterte mich regelrecht ein. Sie war jetzt nicht direkt arrogant; aber als ich ihr gegenüberstand, hatte ich schon jedes Mal Angst, mich teuflisch zu blamieren und dann ihren dezenten, leisen Spott zu spüren zu bekommen. Sie hatte eine Art, einfach nur eine Augenbraue hochzuziehen, wenn sie etwas lächerlich fand, das war schlimmer als offenes Auslachen. Was selbstverständlich vollkommen unter ihrer Würde gewesen wäre … Nun kann man, wenn man sich eingeschüchtert fühlt, natürlich nicht unbedingt durch Selbstsicherheit und professionelles Auftreten glänzen. Ich vermute daher, der erste Eindruck, den Marina von mir hatte, war nicht unbedingt ein guter. Auch wenn sie das nie so deutlich erkennen ließ; dazu war sie dann doch wieder viel zu gut erzogen. Mit der Zeit jedoch wurde es etwas besser, auch wenn Marina und ich nie so ganz warm miteinander wurden, bis … Aber dazu komme ich nachher noch. Ich fand mich so langsam in die Praxis des Alltags eines Anwalts hinein, ich war gut in dem, was ich tat, und die fehlende Erfahrung holte ich Stück für Stück auf. Auch wenn ich vom Können her Marina noch immer nicht das Wasser reichen konnte – 20 Jahre Berufserfahrung sind nun einmal nicht in wenigen Wochen aufgeholt, so wusste ich doch, ich war eine Bereicherung für die Praxis, und das hatte mir der Boss auch bestätigt. Insofern bestand kein Grund mehr, mich Marina nun so maßlos unterlegen zu fühlen. Auch hatte ich gerade zu dieser Zeit eine Frau kennengelernt, etwas älter als ich mit ihren 39, die mir eine Menge beibrachte, was geschliffene Umgangsformen und die richtige Kleidung anging. Ich machte sogar Schulden, um mir endlich die Anzüge leisten zu können, die auf den ersten Blick gar nicht so viel mehr her machten als die anderen, aber dann doch den alles entscheidenden Schick besaßen, den Pfiff, den man dann eben doch bemerkte, selbstverständlich inklusive passender Hemden, Krawatten, Strümpfe, Schuhe und selbst Unterwäsche. Es reichte alles nicht aus; ich fühlte mich Marina noch immer wahnsinnig unterlegen, aber das Ungleichgewicht verkürzte sich wenigstens ein bisschen.
Dann machte meine reife Freundin Schluss mit mir, weil sie zu ihrem Mann zurückkehrte, den sie lange vor mir verlassen hatte. Ich war ziemlich deprimiert. Nicht dass ich sie jetzt unbedingt so sehr geliebt hätte; es war mehr die Tatsache, dass ich nun als Single in ein tiefes, schwarzes Loch fiel, was mir zu schaffen machte, als speziell ihre Abwesenheit. Dazu kam halt, dass ich in der Stadt noch immer relativ neu war – und ich hatte mich so auf die Anwaltstätigkeit gestürzt, dass ich einfach keine Zeit gehabt hatte, richtige neue Freunde zu finden; ich hatte nur ein paar oberflächliche Bekannte und fühlte mich nach der Trennung oft einsam. Dadurch fühlte ich mich auch körperlich reichlich angeschlagen, und das war wahrscheinlich der Grund, warum mich die Grippe erwischte. Und wenn ich sage Grippe, dann meine ich auch eine richtige Grippe, nicht den grippalen Infekt mit Fieber, den viele darunter regelmäßig verstehen. Ein grippaler Infekt ist nach wenigen Tagen vorbei; eine echte Grippe legt einen wochenlang flach. Genauso ging es mir. An einem Tag in der Kanzlei fühlte ich mich ziemlich beschissen und musste nach Hause gehen, die Nacht war furchtbar, und am nächsten Tag war ich dann schon so krank und matt, dass selbst der Anruf in der Kanzlei, um mich krank zu melden, und bei einem Arzt, um um einen Hausbesuch zu bitten, einen gewaltigen Kraftakt bedeutete. Der Arzt machte in der Mittagspause den Hausbesuch, diagnostizierte Grippe, schrieb mir ein Rezept aus – und verließ mich wieder.