Aus den Augenwinkeln bemerke ich, daß David dunkelrot angelaufen ist. Nun, er hat auch allen Grund dazu!
Ich gebe zu, er hat mir zu keinem Zeitpunkt versprochen, daß ich die erste und einzige und die ganz besondere Frau in seinem Leben bin; daß er mich liebt. Aber er hat gesagt, ich sei das wichtigste in seinem Leben; und er hat sich so verhalten, daß jeder unbefangene Beobachter und erst recht eine in ihn verliebte Frau nur eines daraus schließen kann: Daß es ihm ernst ist mit mir. Statt dessen hat unser gemeinsamer Chef mir gerade mit ein paar gedankenlosen Nebenbemerkungen noch einmal bestätigt, was sich durch die Andeutung einer Kollegin heute morgen, als wir zusammen die Firma betreten haben, bereits als neblig-trüber Verdacht über meine davor strahlend gute Laune gelegt hat – ich bin nur eine von vielen, nur eine Trophäe für ihn.
Gerade so schaffe ich es, die Fassung zu bewahren, obwohl mir übel wird bei dem Gedanken, unter diesen Umständen den ganzen Tag mit ihm und der Delegation von unserer Schweizer Partnerfirma unterwegs zu sein, die wir gemeinsam unterhalten sollen. Deren einziges weibliches Mitglied er soeben auch noch ausdrücklich gebeten worden ist, mit seiner berühmten charmanten Art richtiggehend zu umwerben.
So bald ich kann, verlasse ich den Raum, um meinen Vortrag für die Delegation vorzubereiten. David wirft mir einen hilflosen Blick zu, als er kurz nach mir das Zimmer des Chefs verläßt; den ich sehr wohl wahrnehme, auf den ich jedoch bewußt nicht reagiere.
Als kurz darauf die Leute eintreffen, reagiere ich wie ein Roboter. Nach außen wirke ich hoffentlich ganz normal, aber intern bin ich wie betäubt, fühle nichts, denke nichts, plappere nur wie ein gut dressierter Papagei die angebrachten Höflichkeitsfloskeln. Das einzige, was ich durch diese Mauer aus Watte hindurch wirklich registriere, die mich vor dem Schmerz schützt, ist die Keiser, die IT-Chefin der Schweizer Firma. Die Frau, die David ganz besonders intensiv betreuen soll.
Sehr schön ist sie, das muß ich ihr lassen, und ihre Kleidung strahlt die unnachahmliche Eleganz der echten höheren Tochter aus. Charme besitzt sie auch – unseren Chef, den ewig mürrischen und schlecht gelaunten von Delten, hat sie schon bald um den Finger gewickelt. Ihren flinken Augen entgeht sicher nicht viel; vor allem nicht, wenn es um ihren eigenen Vorteil geht. Das einzige, das ich an ihr vermisse, ist Wärme. Ihr Lächeln hält sich streng an die mit einem dunkelroten Konturenstift nachgezeichneten Grenzen ihrer etwas heller rot geschminkten Lippen. Darüber hinaus geht es nicht; ist wohl verbotenes Territorium.
Während der Führung durch unsere Räume übernimmt hauptsächlich von Delten das Reden. So kann ich um so besser beobachten, wie ein paar Worte der Keiser jeden männlichen Kollegen wie einen Pawlowschen Hund sofort in ein sabberndes Etwas mit begehrlichen Blicken verwandeln. Die Kolleginnen allerdings reagieren durchweg mißtrauisch, fast ablehnend. Kein Wunder – gegen die Keiser hätte keine von uns eine Chance. Jedenfalls nicht bei jemandem, der sich auf Äußerlichkeiten beschränkt. Bloß, wer will schon mit einem solchen Mann etwas zu tun haben? (Ja, wenn es denn andere gäbe …)
Erstaunlicherweise bleibt auch David ihr gegenüber sehr reserviert, was ihm einen tadelnden Blick von Deltens einträgt.
Heute morgen hat man ihm nichts davon angesehen, daß er gestern wirklich krank war, doch jetzt sieht er erschöpft aus, blaß und fiebrig. Am liebsten möchte ich ihn nehmen und ins Bett packen.
Beim Mittagessen wird er dann etwas lebhafter. Die Keiser hängt an seinen Lippen (die ich so gerne küssen würde …), obwohl er sich gar nicht speziell an sie wendet, sondern allen gegenüber gleichmäßig aufmerksam ist. Allen – außer mir. Mich würdigt er nicht einmal eines Blickes. Das verbessert meine Laune nicht gerade. Obwohl der kleine Teil meines Gehirns, der für männliche Logik empfänglich ist, mir sagt, daß es ein gutes Zeichen ist. Wenn er wirklich der gewissen- und gedankenlose Schürzenjäger wäre, als den von Delten ihn dargestellt hat, würde er sich wenig daraus machen, daß ich diese Darstellung mit angehört habe. Es scheint ihn aber ganz im Gegenteil sehr getroffen zu haben.
Die Aufmerksamkeit, die die männlichen Mitglieder der Delegation mir zuteil werden lassen, weckt im Laufe des auf drei Stunden ausgedehnten Essens meine Lebensgeister wieder. Vor allem, nachdem ich mitbekommen habe, daß David mehrfach geradezu eifersüchtig zu meinen Gesprächspartnern rechts und links von mir herübersieht, drehe ich meine Flirtreaktionen auf volle Leistung.
Hinterher kommt mein Vortrag, und dann geht es – nachdem von Delten, dieser kleine feige Hund, sich wegen ach, so wichtiger Geschäfte entschuldigt hat und verschwunden ist -, in einem Kleinbus auf Stadtrundfahrt. Meine beiden treuen Begleiter helfen mir, die gähnende Langeweile der Erklärungen des offiziellen Führers zu überstehen. Und später das Abendessen im Restaurant des Aussichtsturms auf dem Berg, das auch nicht viel aufregender verläuft.
Endlich kommt die Diskussion auf das Thema, was man danach unternimmt. Von Kino über Tanzshow und Nachtbar wird alles durchgekaut. Mit sinkendem Herzen höre ich den Vorschlägen zu. Bis ich beschließe, die Initiative zu ergreifen. Im Gewerbegebiet hat vor kurzem eine Disco eröffnet, in der hauptsächlich Rock und Pop aus den 70er und 80er Jahren gespielt wird. Hier wollte ich schon längst einmal hin, und wenn ich schon einen freien Abend opfern muß, kann ich das genauso gut für etwas tun, das mir vielleicht sogar Spaß macht.
Meine beiden Verehrer sind die ersten, die begeistert zustimmen, und nach einer Weile sind auch die anderen einverstanden. Sogar die Keiser läßt sich – von David – überreden mitzukommen.
Der Saal ist, obwohl wir Mitte der Woche haben, gerammelt voll, als wir eintreffen. Mühsam gelingt es uns, zwei Tische zu erobern, in einiger Entfernung voneinander. Die Aufteilung ergibt sich automatisch – meine beiden Fans, die zwei anderen Herren und ich an einem Tisch, David und die Keiser am zweiten. Von Delten wäre begeistert.
Ich bin rasend eifersüchtig, aber es beruhigt mich, daß auch David es erkennbar ist. Und sofort bettele ich darum, tanzen zu können, und nachdem ja vier Partner bereitstehen, kann ich ohne Pause in meinen Bewegungen zur Musik versinken. Schon bald ist mir heiß, und ich fühle mich wie nach einem Dauerlauf, aber ich genieße es unendlich. Zwischendurch suchen meine Augen unauffällig David. Leider muß ich feststellen, daß er geradezu göttlich tanzt; bloß nicht mit mir.
Die Zeit vergeht wie im Fluge, und endlich muß ich doch eine Pause einlegen. Die drei Herren, die beim letzten Tanz am Platz geblieben sind, sind jetzt bei geschäftlichen Dingen, und mein Partner beeilt sich, im Gespräch hinterherzukommen. Ab und an werfe ich ebenfalls eine Bemerkung ein, aber hauptsächlich lasse ich die Musik in mich eindringen.
David ist mit der Keiser noch unterwegs auf der Tanzfläche.
Plötzlich, als die beiden ganz in der Nähe sind, sieht er zu unserem Tisch herüber, und das erste Mal seit diesem Morgen sehen wir uns direkt in die Augen.
Abrupt bleibt David stehen, läßt die Keiser los – die ihm sprachlos nachstarrt -, und kommt geradewegs zu mir. „Darf ich um diesen Tanz bitten,“ fragt er förmlich und verbeugt sich. Ich erhebe mich, ergreife seine ausgestreckte Hand, und gemeinsam rauschen wir an der sichtlich empörten Keiser vorbei, mitten in den wogenden Trubel hinein.
David umfaßt mit der anderen Hand meine Taille, und ich bekomme weiche Knie.
Wir sprechen kein Wort.
Das nächste Stück ist ein langsames. Ich schlinge meine Arme um Davids Hals, schmiege mich an ihn, und er hält mich so fest, daß ich kaum noch Luft bekomme. „Oh, Scheiße, David,“ murmele ich, „ich glaube, ich liebe dich!“
Er erwidert zwei Worte, die ich ihn bitten muß zu wiederholen, bevor ich sie verstehe: „Meat Loaf“. Ein paar Sekunden stehe ich total auf dem Schlauch, bis der Groschen endlich pfennigweise fällt: Das Lied, das gerade eben lief – You Took The Words Right Out Of My Mouth …