Es war mit vor Stolz geschwollener Brust, dass Ulrich pünktlich um sieben Uhr an der Tür seines Professors klingelte, in einer der wunderbaren alten Villen am Hang, die er schon vor seiner Studienzeit immer bewundert hatte. Der Gegensatz zu seiner kleinen, engen, dunklen, muffigen Studentenwohnung ließ ihm die weiträumigen alten Häuser mit ihrer ruhigen, selbstverständlichen Eleganz noch schöner erscheinen. Einen Augenblick überlegte er, ob er auch wirklich passend gekleidet war für den besonderen Anlass. Als Student hat man nun einmal nicht das Geld, um sich haufenweise schicke Anzüge zu kaufen. Er hatte aus seinem Kleiderschrank das gewählt, das noch am ehesten gesellschaftsfähig war – eine dunkle Hose, dazu ein weißes Hemd, ohne Krawatte -, und ein blauer Blazer.
Er fühlte sich nicht ganz wohl in dieser Kleidung, obwohl sie nun nicht gerade meilenweit von der üblichen Studentenuniform mit Jeans und Sweatshirt entfernt war. Sein Unwohlsein hatte zwei konträre Ursachen – zum einen schabte die Stoffhose ganz unangenehm an seinen nackten Schenkeln, was bei dem warmen Wetter nicht unbedingt zu seinem Wohlbefinden beitrug. Und zweitens fühlte er sich trotz der unkomfortablen Veränderung gravierend „underdressed“. Die anderen Studenten würden bestimmt alle im Anzug auftauchen. Vielleicht hätte er sich doch von seinen Eltern Geld leihen und sich einen richtigen Anzug kaufen sollen? Nur dass seine Eltern eben alles andere als reich waren. Aber schließlich würde dieser Abend über viel entscheiden. Offiziell war er zwar nur gedacht, um die Referate aufzuteilen, die im Rahmen des Seminars im nächsten Semester von den Studenten gehalten werden sollten. Aber jeder wusste, dass dieses Seminar, und entsprechend natürlich auch dieser Abend, eigentlich nur eine Vorbereitung darauf war, wen der Professor später einmal für eine Dissertation akzeptieren würde. Er war als Doktorvater extrem begehrt, und wer sich erst nach dem Staatsexamen darum bemühte, als sein Doktorand angenommen zu werden, der hatte schon von vorneherein keine Chancen mehr. Nicht dass der Professor schon so frühzeitig eine verbindliche Zusage abgeben würde – aber man musste sich doch darum bemühen, einen extrem guten Eindruck zu machen, denn er traf auf jeden Fall bereits seine Auswahl unter dem potenziellen „Doktoranden-Material“. Ob es dabei auch auf Äußerlichkeiten ankam, oder wirklich rein auf die fachliche Qualifikation, die er an diesem Abend bei den Diskussionen beweisen musste? Ulrich war sich unsicher, und die Unsicherheit sorgte dafür, dass ihm noch mehr der Schweiß ausbrach. Das Dumme war nur, jetzt war ohnehin alles zu spät; nun musste er so, wie er war, dem Professor unter die Augen treten. Ihm und seiner Frau, von der er bereits viel gehört hatte. Sie war bei solchen Abenden oft im Hintergrund anwesend, kümmerte sich um die Getränke und einen kleinen Imbiss. Deshalb hatte er ihr auch einen Blumenstrauß besorgt, doch jetzt, vor der Tür der Villa stehend, kam ihm das wie eine überflüssige und, schlimmer noch, dumme Geste vor. Sollte er die Blumen noch schnell entsorgen? Nein – es war zu spät. Die Tür öffnete sich.
Und dort stand eine der schönsten Frauen, die Ulrich jemals gesehen hatte. Der Professor war fast 60, aber seine Frau konnte höchstens halb so alt sein; 30, vielleicht Anfang 30. Sie war groß, fast so groß wie Ulrich mit seinen über 1,80, extrem schlank, aber mit hoch angesetzten, vollen Brüsten und ebenso vollen Hüften gesegnet, was ihre Wespentaille, betont durch einen breiten roten Lackgürtel, nur umso auffälliger machte. Der Rock, den der Lackgürtel hielt, war schwarz und aus einem glänzenden Material. Er reichte ihr nicht einmal ansatzweise bis zu den Knien. Ihre dadurch nur umso länger wirkenden, gebräunten, nackten Beine steckten in hochhackigen Sandaletten aus rotem Lackleder, passend zum Gürtel. Als Oberteil trug sie ein ärmelloses beigefarbenes Shirt, das ihre Oberweite locker umspielte und fast durchsichtig war, sodass Ulrich sehen konnte, sie trug nichts darunter. Ihr ins Gesicht zu sehen wagte er nicht; schon der Anblick ihres Körpers hatte ihn total scheu gemacht. Verlegen sah er zu Boden und hielt ihr nun doch den Blumenstrauß hin. „F-für Sie!„, stotterte er. Ein warmes Lachen ließ ihn nun doch aufschauen, ihr direkt in die Augen, von einem wunderbaren, strahlenden dunklen Blau. Das Dunkel ihrer fast schwarzen Haare machte ihre Augen nur umso mehr leuchten. Ulrich sah hinein – und war verloren. Noch nie war es ihm, dem Bücherwurm, dem ernsthaften Streber, passiert, dass er sich auf Anhieb in eine Frau verliebt hatte. Überhaupt hatte er Frauen bislang nicht groß beachtet; vor allem nicht seine Mit-Studentinnen, aber auch reifer Frauen nicht. Sex war für ihn eine Notwendigkeit gewesen, wie das Essen, der man sich ab und zu nicht entziehen konnte, aber nicht mehr. Doch jetzt kam es ihm vor, als sehe er in einen Spiegel hinein, der ihm etwas zeigte, woran er bisher immer achtlos vorbeigegangen war. Sollte er es Liebe nennen? Nein, das wagte er nicht. Aber er war der Frau des Professors auf Anhieb verfallen. „Ich danke Ihnen„, sagte sie, nahm die Blume entgegen und trat einen Schritt zurück, sodass er ihr ins Haus folgen konnte. „Sie sind neu hier, nicht wahr?„, fragte sie im Plauderton, als sie ihn in das Büro ihres Mannes führte. „Ich habe Sie bisher noch nie getroffen.“ Ulrich bestätigte es, ließ sich von ihr darüber ausfragen, wie er hieß, in welchem Semester er war und welche Pläne er für die Zukunft hatte.
Die Tür zum Büro stand offen; Stimmengemurmel war zu hören. Erschrocken überlegte Ulrich, ob er vielleicht zu spät war? Nein, es waren nur zwei andere Studenten bereits da, sah er, als die Frau des Professors leise an die Tür klopfte und ihn hinein wies, bevor sie sich auf klappernden Absätzen wieder in den vorderen Teil der Villa begab. Der Professor begrüßte Ulrich sehr herzlich, die anderen beiden Studenten, wie Ulrich es befürchtet hatte im korrekten Sommeranzug, eher gleichgültig. Es perlte beides an ihm ab, denn er musste an diese Frau denken. Noch dreimal sah er sie, als sie die weiteren Studenten ins Büro begleitete und dann dort Tee und kalte Getränke einschenkte, bevor sie sich erneut zurückzog. Obwohl Ulrich sich hervorragend auf die Besprechung vorbereitet hatte, konnte er sich doch nicht konzentrieren und war sich bewusst, auf den Professor nicht gerade einen guten Eindruck zu machen. Schon einige Male hatte dieser ihn stirnrunzelnd angesehen. Er war offensichtlich schwer von ihm enttäuscht; dabei war er bisher in den Vorlesungen und Seminaren immer der Beste gewesen. Oder zumindest einer der Besten. Nur dadurch war es ja auch überhaupt zu erklären, dass er in diese illustre Gesellschaft aufgenommen und in die Vorauswahl für eine Doktorarbeit gekommen war, obwohl er sich normalerweise in ganz anderen Kreisen bewegte als die höheren Söhne, mit denen der Professor sonst meistens zu tun hat und die er ersichtlich bevorzugte. Ulrich sah mit sinkendem Herzen seine Chance schwinden, als Doktorand angenommen zu werden. Und dann ging es ihm siedend heiß auf, was dies noch bedeuten würde – dass er die Frau des Professors nicht wiedersehen würde. Es war wie ein elektrischer Schlag, diese Erkenntnis, die ihn jäh aufweckte und, Hitze und beginnende Verliebtheit sowie Verlegenheit hin oder her, auf einmal in den Zustand versetzte, wie an der Uni auch hier mit seinem Wissen und seiner Intelligenz zu glänzen. Das Stirnrunzeln des Professors verwandelte sich in befriedigtes Nicken. Ulrichs Chancen stiegen wieder, was die anderen Studenten mit Missmut zur Kenntnis nahmen.