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17. Oktober 2008

Teil 2 – Herbsturlaub

Das gibt es doch nicht – gerade hat sie an ihn gedacht, und nun ist er da. Neben ihrer Wohnungstür lehnt Jay, vor sich etwas, das wie ein kleiner Seesack aussieht, und eine Notebooktasche. Sie stockt, noch etliche Stufen vor dem Treppenabsatz. Stürmische Begeisterung wird abgelöst von Unwillen. Seit sie ihren viel zu kurzen Herbsturlaub am Bodensee beendet hatten, hatten sie beide es sich in die Hand versprochen, sich eine Zeit lang nicht zu sehen. Sie wollten herausfinden, ob sie sich wirklich etwas bedeuten – oder ob es nur ein Urlaubsflirt war, was zwischen ihnen stattgefunden hat. Und jetzt taucht er einfach so bei ihr auf, nach knapp einer Woche – und hat sich nicht einmal angekündigt.

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Was glaubt er eigentlich, wer er ist? Wie kann er so arrogant davon ausgehen, dass sie nur auf ihn gewartet hat? Dass da immer Platz in ihrem leben ist für ihn? Wie kommt Jay dazu, einfach unangekündigt aufzutauchen? Weshalb bilden Männer sich immer ein, sie seien das Wichtigste im Leben einer Frau? Sie selbst war nach dieser einen Woche schon fast davon überzeugt, es war wirklich nur das, ein Urlaubsflirt im Herbsturlaub. Schön – aber nicht mehr. Doch jetzt hockt er vor ihrer Tür. Und so einfach wieder wegschicken kann sie ihn nicht; das wäre undankbar. Er hat sie schließlich so ungeheuer gastfreundlich aufgenommen. Er ist schnell darin, ihre Stimmung aufzufangen. Sein Begrüßungslächeln erstirbt, und mit ihm der Glanz in seinen Augen. „Es tut mir leid, Anne. Ich weiß, es war dumm, nicht vorher anzurufen. Ich habe es nicht mehr ausgehalten; im Büro warst du nicht zu erreichen, und dein Handy war aus. Da bin ich einfach los. Es ist kein Problem – wenn ich ungelegen komme, suche ich mir ein Hotel und fahre gleich morgen zurück.

Wunderbar – nun hat sie sich benommen wie eine eiskalte Zicke. Wie kann sie das diesem so ungeheuer lieben Menschen nur antun? Sie nimmt die letzten Stufen mit einem Schritt, streckt die Arme aus. „Meine Güte, einen Moment lang habe ich Angst gehabt, jetzt bin ich durchgedreht. Habe Halluzinationen, weil ich mir das so sehr gewünscht habe, dass du kommst.“ Einen Moment lang zögert er, geht dann auf sie zu, ohne sie zu berühren. „Das ist nicht die ganze Wahrheit, Anne. Etwas stört dich daran, dass ich schon da bin. Aber vielleicht sollten wir das drinnen klären? Ich meine, natürlich nur, wenn du mich für eine kurze Zeit ertragen kannst.“ Verdammt! Verdammt, verdammt! Fein hat sie das hingekriegt. Statt überschäumender Wiedersehensfreude, die ihn anfangs ganz offensichtlich erfüllt hat, haben sie nun Knatsch. Kein gutes Vorzeichen. Ausgerechnet in diesem Moment geht das Licht aus, noch bevor sie den Schlüssel zu ihrer Wohnungstür aus ihrer Handtasche hat kramen können. Ein paar Fenster hätten sie ja schon in diesem blöden Treppenhaus unterbringen können. Draußen ist es noch hell genug, etwas zu sehen; nur hier ist es jetzt stockdunkel.

Wie lange Jay wohl in der Schwärze da gesessen und auf sie gewartet hat? Sich ausgemalt, wie sie sich voller Freude auf ihn stürzen wird? Und dann die kalte Dusche ihrer absoluten Un-Freude. Eine eiskalte Dusche. Ihrer beider Hände tasten gleichzeitig nach dem Schalter, der schwach rot leuchtet. Sie fasst zu, vergisst das Licht, greift seine Hand, greift, was als dunklerer Schatten im Dunkel neben ihr steht. Es ist der alte Geruch nach Zimt, den sie an ihm wahrnimmt, er ist ihr schon am Bodensee aufgefallen, es sind die festen, sicheren Linien, an die sie sich erinnert, wie sie mit ihren eigenen verschmelzen. „Jay, Jay, ich bin so froh, dass du da bist!„, murmelt sie atemlos und vergräbt das Gesicht an seiner Brust.

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Sie flüstern, halten einander. „Lass uns hineingehen„, sagt er schließlich. Wieder tasten sie zusammen nach dem kleinen roten Lichtpunkt, doch diesmal gelingt es. Mit viel Klirren und Gerassel schließt sie auf. Noch heftiger als vorher zittert sie jetzt. „Hast du Hunger?„, fragt sie ihn. Er hat sie schließlich auch zuerst mit einem warmen Essen überrascht. Und an den Herbstabenden, wo es so kalt und trüb ist, hat man das nötig. „Essen können wir nachher noch, Anne„, lehnt er ab. Nachher? Nach was? Fragt sie sich? Sie hat den ersten Schrecken über seine unerwartete Anwesenheit überwunden, sie genießt erneut seine körperliche Wärme – aber damit ist noch längst nicht wieder alles in Ordnung. Da ist noch immer ein kleiner Stachel in ihr, ein wenig Ärger über ihn, dass er sie so selbstverständlich in Beschlag nimmt. Wieder hält er sie, als sie dann in der Wohnung sind, dort im Flur stehen. So ruhig ist er, so warm sein Körper. Aber es entgeht ihm nicht, dass noch nicht alles wieder in Ordnung ist. „Du freust dich nicht„, stellt er fest.

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01. August 2008

Der falsche Thomas

Manche Telefonanrufe können einem wirklich die Laune verderben. „Es tut mir leid, aber du musst noch eine halbe Stunde warten, bis ich dich abholen kann. Oder du kommst zu mir.“ Na toll. Kerstin war es, die mich überredet hatte, ausgerechnet an diesem Freitagabend nach einer furchtbaren Woche mit vollem Stress bei der Arbeit noch essen zu gehen. Um mich überhaupt herumzukriegen, hatte sie versprochen, auf jeden Fall wenigstens den Chauffeur zu spielen.

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Aber typisch – wann hatte sie schon jemals ein Versprechen erfüllt, das sie ohnehin nur abgegeben hatte, um mich zu etwas zu überreden, bei dem sie schlicht Gesellschaft brauchte, selbst eine widerstrebende?

Am liebsten hätte ich abgesagt.

Bloß – jede Frau braucht mindestens eine Freundin, über die sie sich regelmäßig aufregen kann. Das erhält fit und gibt uns so ein gutes Gefühl von Engelsgeduld. Allerdings fordert es uns halt auch die eine oder andere ungeliebte Unternehmung ab.

In Ordnung – ich komme bei dir vorbei.

Um ehrlich zu sein, ich bin nicht in meiner Wohnung. Du musst dann zu Thomas kommen. Der wohnt im Birkenweg 11. Bis dann!

Zu Thomas. Aha. Ob sie mir vielleicht auch noch verraten würde, wer denn, bitte, dieser Thomas war? Nein – sie hatte schon aufgelegt. Typisch.

Kerstin ist garantiert die einzige Frau, die von einem anderen verlangt, in einem mindestens 50-Parteien-Hochhaus – im Birkenweg gibt es nämlich keine Birken, sondern ausschließlich Hochhäuser – eine Wohnung nur nach dem Vornamen des Mieters zu finden.

Gut – sie sprach von ihm, als sei es ein enger Freund. Ich glaubte mich sogar erinnern zu können, sie hatte den Namen Thomas in der letzten Zeit ab und zu erwähnt. Immer jedoch in Zusammenhang mit ihrer Arbeit. So, als handele es sich um einen Kollegen, keinesfalls einen festen Freund und Liebhaber.

Nun, vielleicht war er ja beides.

Ich machte mich auf den Weg.

Zum Glück hatte Thomas für solche Fälle vorgesorgt. „Thomas Engert“ stand an einem Türschild. In der Hoffnung, dass es nicht noch ein Dutzend andere Thomasse im Haus gab, klingelte ich dort – und wurde ohne Nachfrage eingelassen.

Jetzt also auf in den 5. Stock.

Der Aufzug war natürlich kaputt, also musste ich zu Fuß die ganzen Treppen hoch. Ziemlich schnaufend und außer Puste kam ich an und blickte mich um.

Von den zehn Türen im fünften Stock stand eine offen.

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Dorthin begab ich mich und klingelte sicherheitshalber noch einmal. Schon reichlich verwundert, um nicht zu sagen verärgert, dass mich kein Thomas Engert und auch nicht wenigstens meine Freundin Kerstin in der Tür erwarteten.

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