Wenn ich an meinen Mathe- und Physiklehrer zurückdenke, dann kam der mir anfangs immer vor wie ein Lehrer aus dem vorigen Jahrhundert; obwohl er mit seinen Anfang 30 einer der jüngsten Lehrkräfte an der Schule überhaupt war. Wo die meisten Lehrer Wert darauf legten, lässig und modern und aufgeschlossen zu sein, oder zumindest so zu erscheinen, war er ganz offen streng und autoritär, agierte mit Strafen, ließ nicht mit sich reden und verlangte mehr als jeder andere von uns Schülerinnen und Schülern. Über sein Privatleben wussten wir nur, dass er nicht verheiratet war; was natürlich sofort Gerüchte aufkommen ließ, er sei schwul. Natürlich war er deshalb bei uns Schülern ziemlich unbeliebt. Zum Glück hatten wir ihn nur im letzten Jahr vor dem Abitur, in der 13. Klasse. Damals waren alle in unserer Klasse schon volljährig und waren auch durchaus bereit, mal den Mund aufzumachen, um diesen neuen Status des Erwachsenseins auch auszunutzen. So manch ein „netter“ Lehrer hatte deshalb so seine Schwierigkeiten mit uns. Wir Teenager waren kaum noch zu bändigen; so wie Pferde, die den Geruch der kommenden Freiheit wittern. Aber bei diesem Lehrer, Ingold*, machte keiner den Mund auf. Ich kann es euch nicht erklären, wie er das machte, aber er hatte uns alle im Griff, den ganzen wilden Haufen an ungebärdigen Teenagern. So im Nachhinein objektiv betrachtet, hätten ein paar der anderen Lehrer, die alles schleifen ließen und es deshalb auch so gut wie nie schafften, dass bei uns Ruhe und Disziplin herrschten, sich von Ingold gut eine Scheibe abschneiden können. Damals allerdings sah ich das natürlich nicht so. Ich machte mir allerdings überhaupt nicht allzu viele Gedanken um die Lehrer, sondern mehr um den zu lernenden Stoff. Ich musste unbedingt ein gutes Abitur hinlegen, sonst konnte ich wegen des Numerus Clausus nicht das studieren, was ich studieren wollte; nämlich Physik. Für den Zugang zu diesem Studium zählte zwar nicht nur der Notendurchschnitt, sondern es gab ein richtiges Auswahlverfahren, aber wenn die Noten schon nicht stimmten, hatte ich natürlich schlechte Karten. Deshalb strengte ich mich gewaltig an; vor allem natürlich in Physik. Was wir neben Mathe bei Ingold hatten. So streng er auch war, so gehörte er doch wenigstens nicht zu den Lehrern, die ab und zu mal willkürlich ihre Noten festlegten, so wie es ja viele gibt. Bei Ingold wusste man immer, man hatte die Note verdient, die man bekam; ob sie nun gut war oder schlecht. Von daher war ich eigentlich sogar ganz froh, ihn als Lehrer zu haben; wenn ich seinen Stil und seine Lehrmethoden auch reichlich vorsintflutlich fand.
Noch etwas anderes sprach für ihn; als er erfuhr, dass ich Physik studieren wollte, gab er mir ab und zu Hinweise, wo ich mich über den Lehrstoff an der Uni informieren konnte, der sich seiner Aussage nach um ganze Welten von dem unterschied, was den Physikunterricht an der Schule ausmachte. Viel Zeit hatte ich natürlich nicht, mich darum zu kümmern, denn ich musste ja erst einmal fürs Abitur lernen, aber ich war ihm dennoch dankbar für seine Tipps, mit denen ich mich ja dann in den Sommerferien beschäftigen konnte. Bis dahin war es allerdings noch ein weiter Weg. Zuerst kam das schriftliche Abitur, und da geschah das Schreckliche. Ausgerechnet am Tag der Physikarbeit hatte ich einen ganz schlechten Tag, ich schlug mich mit einer beginnenden Grippe herum, und so kam es, dass meine Note dort viel schlechter war, als ich das gehofft hatte. Natürlich würde ich das zum Teil wieder bei der mündlichen Prüfung ausgleichen können, aber es traf mich doch hart. Umso gründlicher bereitete ich mich auf die mündliche Prüfung vor. Ich war so nervös, dass ich schon Tage vorher nicht essen und nicht schlafen konnte. Die Prüfung selbst lief irgendwie an mir vorbei; ich funktionierte wie ein Automat, ohne Gefühl, wie taub, und hatte so auch nicht die geringste Ahnung, ob meine Antworten denn nun richtig waren und wie mein Vortrag ausgefallen war, den ich im Rahmen der Prüfung hatte vorbereiten müssen. Erst als ich dann draußen vor dem Raum stand, wo die Prüfung stattgefunden hatte, und darauf wartete, dass man mich nach der Beratung wieder hinein rief, um mir das Ergebnis mitzuteilen, erwachte ich wie aus tiefem Schlaf; und sofort war mir schlecht vor Angst, dass ich es versaut haben könnte. Die wenigen Minuten, bis sich die Tür wieder öffnete, waren ein einziger Albtraum. Und dann ging die Tür auf, und Ingold kam heraus. Ich sah ihn wie durch einen Nebel und schwankte, fürchtete sogar, ohnmächtig zu werden. In seine Augen trat ein besorgter Ausdruck; man sah es mir wohl an, wie ich mich fühlte. Das war es wahrscheinlich, was ihn dazu veranlasste, mir noch vor der Tür das Ergebnis zu verraten. „Du hast die glatten 15 Punkte geschafft“, raunte er mir zu. Es war, als fiele mir ein gigantischer Stein vom Herzen, als ob ich jäh von finsterster Verzweiflung mitten hinein ins höchste Glück gestürzt worden wäre. Ich hätte jubeln und tanzen können, und weil mir beides unpassend erschien, tat ich das Nächstbeste – ich fiel Ingold einfach um den Hals. Das war natürlich auch verdammt unpassend, aber irgendetwas musste ich einfach tun. Ich merkte, wie Ingold sich versteifte, als ich mich stürmisch an ihn drückte. Und dann merkte ich noch etwas anderes, und zwar seine Reaktion auf meine Umarmung; eine ganz eindeutige Reaktion in seiner Körpermitte, die er sofort zu überspielen suchte. Nein, schwul war dieser Mann ganz bestimmt nicht!