Es gibt kaum eine ekelhaftere Tätigkeit, als im Rahmen einer Umfrage von Haus zu Haus, von Tür zu Tür zu gehen und die Leute zu drängen, dass sie einem ein paar Fragen beantworten. Genau dazu hatte ich mich aber im Rahmen eines studentischen Projekts bereiterklärt. Mir war schon klar, dass ich an den Wochentagen, wenn ich da tagsüber irgendwo klingelte, im Zweifel nur entweder an Hausfrauen geraten würde, an Rentner, Arbeitslose oder Schichtarbeiter, die bestimmt nicht gerne beim Schlafen gestört werden. Deshalb hatte ich beschlossen, einen Teil meiner Befragungen am Wochenende durchzuführen. Allerdings war ich anfangs noch ziemlich naiv; nie hätte ich mir vorstellen können, wie viel Mühe das kostet, auch nur eine einzige Person zur Teilnahme an der Umfrage zu überreden.
Nach meinem ersten Wochenende hatte ich gerade mal erst zehn Fragebögen ausgefüllt, obwohl ich zwei Tage lang jeweils Stunden unterwegs gewesen war. Schon da wurde mir klar, dass es nicht reichen würde, wenn ich mich bloß auf das Wochenende beschränkte, um die Leute zu besuchen – denn in vier Wochen musste die Studie abgeschlossen sein, für die die Umfrage lediglich den ersten Baustein bildete, und ich wollte und musste insgesamt 50 Teilnehmer befragen. Bei zehn Antworten an einem Wochenende würde ich nie rechtzeitig fertig werden. Deshalb war ich schon am Tag danach praktisch in jeder freien Minute mit meinen Fragebögen unterwegs. Wie ich das befürchtet hatte, waren tagsüber wirklich fast nur Hausfrauen anzutreffen. Das würde das Ergebnis der Umfrage möglicherweise total verfälschen. Zumal die meisten Hausfrauen, die ich antraf, dann auch noch reife Frauen im Alter von über 40 bis über 50 waren. Nun machen reife Hausfrauen aber ja nur einen kleinen Teil der Bevölkerung aus – ich konnte mich doch nicht ausschließlich auf diese Gruppe beschränken! Wobei diese Hausfrauen immerhin durchweg nett und freundlich waren – und vor allem aber auch bereit zu einem kleinen Schwätzchen und dazu, mir meine Fragen zu beantworten. Und mir einen Kaffee anzubieten, oft sogar ein Stück Kuchen. Schon am Montagabend hatte ich 20 weitere Fragebögen ausgefüllt. Damit war ich schon bei insgesamt 30 von 50. Ich überlegte mir, es wäre sicher eine gute Idee, die restlichen Interviews einfach doch wieder am Wochenende zu führen, damit ich auch Männer und jüngere Frauen erwischte. Deshalb tat ich den Rest der Woche gar nichts.
Das zweite Wochenende wurde allerdings noch schlimmer als das erste. Ich brachte es diesmal lediglich auf sieben ausgefüllte Formulare. Danach stand es für mich fest – ich würde mir nicht weiter für dieses Projekt die Hacken ablaufen, sondern den einfachen Weg gehen. Und wenn dann die Antworten eben vorwiegend von reifen Hausfrauen stammten – na und? Ich konnte das ja in meine Auswertung mit einbeziehen. So verkehrt konnte das Ergebnis ohnehin nicht sein, denn die Antworten dieser Damen ab 40 oder ab 50, die als Beruf Hausfrau hatten, fielen auch nicht so grundsätzlich anders aus als die Antworten der Männer und jungen Frauen, die ich an den beiden Wochenenden erwischt hatte. Vor allem musste ich die Umfrage wirklich langsam abschließen, sonst hatte ich nicht mehr genug Zeit für die Ausarbeitung. Es half alles nichts – die Hausfrauen würden mich unterstützen müssen. Gleich am Montag zog ich wieder los. 13 Interview-Partner fehlten mir noch – wenn alles so gut lief wie am Montag zuvor, würde ich das alles am Abend abgeschlossen haben. Doch an diesem Montag war irgendwie der Wurm drin. Meistens war gar niemand zuhause, wo ich klingelte, und wenn dann doch mal jemand öffnete, wurde ich ebenso kurz und mürrisch, teilweise sogar rüde abgefertigt, wie ich das von den Wochenenden her kannte.
Niemand war bereit, sich mit mir zu unterhalten. Vielleicht war ich im falschen Wohnviertel unterwegs? Vielleicht gab es hier zu wenig Hausfrauen? Noch zwei Versuche würde ich machen, so beschloss ich für mich, und wenn ich dabei den gleichen Misserfolg hatte wie den gesamten restlichen Morgen, dann würde ich es stecken. Es sah alles ganz danach aus. Im nächsten Haus, wo ich an der Tür klingelte, tat sich gar nichts. Entweder war wirklich niemand zuhause – oder man hatte mich bereits die Straße entlang laufen und überall klingeln sehen und prompt beschlossen, mich zu ignorieren. Okay – also noch ein Haus, und dann war es das. Das Nachbarhaus war auch ein sehr geeignet scheinender Ort für einen Abschluss; es war ein wunderschönes Haus, nicht sehr groß, aber hervorragend gepflegt und in Schuss. Durch mein Herumlaufen für die Umfrage hatte ich so langsam einen Blick dafür bekommen, den Instandhaltungszustand von Häusern abzuschätzen. So gepflegt, wie hier am Haus und im Garten alles war, gab es bestimmt eine Hausfrau, die sich um alles kümmerte. Vielleicht hatte ich ja Glück und wurde endlich mal wieder freundlich aufgenommen.
Immerhin, nachdem ich geklingelt hatte, hörte ich sofort Schritte. Die Tür öffnete sich – und vor mir stand eine Erscheinung, bei der ich den Mund öffnete und nicht wieder schließen konnte. Jegliche Einleitungsfloskel, wie ich sie ja inzwischen nun alle in- und auswendig kannte, war mir urplötzlich entfallen; ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es war in der Tat eine reife Frau, die ich hier vor mir hatte; ich schätzte sie auf etwa Anfang 40. (Später sollte ich dann erfahren, dass sie in Wirklichkeit bereits über 50 war; sie hatte sich also extrem gut gehalten.) Eine Hausfrau aber konnte das unmöglich sein! Sie trug hochhackige Pumps, Nylonstrümpfe, einen schicken hellbraunen Wollrock, darüber einen cremefarbenen Pulli, wahrscheinlich aus Angorawolle – ihr wisst schon, dieses fusselige Zeug -, schicke Ohrringe, und lange Haare, die ihr bis auf die Schultern herabfielen, wo sie sich aber keinerlei Mühe gemacht hatte, das beginnende Grau zu verbergen oder zu färben; es waren sehr dunkle, fast schwarze Haare, mit einzelnen weißen Haaren und ganzen weißen Strähnen. Insgesamt war der Eindruck so ungewöhnlich, dass ich wirklich total überrascht und verwirrt war. Ihr müsst euch einfach mal vorstellen, dass ich ja nun schon bei vielen Leuten zuhause gewesen war für die Umfrage. Meistens war man mir, an den Wochenenden, in Jogginghosen und Schlabbershirts begegnet, manchmal auch halb nackt; auf jeden Fall äußerst leger gekleidet. Und das galt für Männer wie Frauen gleichermaßen. Die Hausfrauen in der Woche wiederum, die hatten eine ganz andere Form der „Uniform“. Manche trugen Kittelschürzen, andere hässliche, geblümte Hauskleider, und die modisch ganz Mutigen griffen auf Leggins und Sweatshirts zurück. Aber diese Frau war so schick zurechtgemacht, als ob sie in einem Büro säße. Oder gerade ausgehen wollte. „S-störe ich Sie gerade?„, stotterte ich endlich, nachdem sie mich eine Weile lang auffordernd angeschaut hatte. „Nein, nein – ich bin Hausfrau„, erklärte sie schnell. „Mit meiner Hausarbeit bin ich schon fertig, und ich hatte ohnehin gerade Langeweile. Eigentlich wollte ich ausgehen – aber sicher können Sie mir auch die Zeit vertreiben.“ Sie lächelte mich dabei so gewinnend an, dass ich die halbe Beleidigung ignorieren konnte, die in ihren Worten lag.