Eigentlich sollte man denken, dass reife Frauen sich ausreichend im Griff haben, um nicht gleich der ersten besten Versuchung zu erliegen, die sich ihnen bietet. Aber manchmal ist das Gegenteil der Fall. Und so ist es zum großen Krach zwischen meiner Nicht, gleichzeitig auch meiner Patentochter, und mir gekommen. Die Hauptrolle dabei spielte natürlich, wie sollte es anders sein, ein Mann. Fabian, ihr Freund. Oder inzwischen müsste ich sagen ihr Ex-Freund. Ich hatte ihn bereits kennengelernt und auch bereits einige Male flüchtig getroffen, ohne ihn groß zu beachten, weil ich ihn einfach als Freund meiner Nichte ansah und gleichzeitig davon überzeugt war, dass es mit ihm ebenso schnell wieder auseinandergehen würde wie mit seinen Vorgängern, weshalb er für mich allenfalls eine unwichtige Nebenrolle spielte. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ihm in Wirklichkeit die Hauptrolle zufallen sollte. Aber eines Tages kam meine Nichte zu mir. Sie machte sich Sorgen, dass Fabian möglicherweise kurz davor stand, sie zu verlassen. Vorher war es immer umgekehrt gewesen; da hatte meine Nichte, schon fast wie ein männermordender Vamp, die Männer immer scharenweise aufgerissen, nur um sie nach kurzer Zeit wieder fallenzulassen. Doch diesmal schien es so, als würde sie ihren aktuellen Partner gerne behalten. Nur ist die Welt ungerecht – gerade den fürchtete sie jetzt ohne eigenes Zutun zu verlieren. Eigentlich geschah ihr das ja ganz recht; dann würde sie nämlich endlich auch einmal sehen, wie das ist, wenn man den Laufpass bekommt. Bisher war meine Nichte insofern relativ rücksichtslos und selbstsüchtig gewesen. Auch wenn sie meine Nichte ist und ich sie heiß und innig liebe, heißt das doch nicht, dass ich ihre Fehler nicht sehe. Und einer ihrer größten Fehler war die Gedankenlosigkeit, mit der sie ihre bisherigen Beziehungen aufgekündigt hatte. Natürlich sagte ich ihr das nicht, denn es hätte nichts geholfen. Als sie mir von den Anzeichen berichtete, an denen sie Fabians mehr und mehr mangelndes Interesse abzulesen glaubte, fuhr ich eine Doppelstrategie. Auf der einen Seite spielte ich die Bedeutung dieser Vorfälle herab, und auf der anderen Seite bereitete ich meine Nichte darauf vor, dass Fabian ganz sicher nicht ewig mit ihr zusammenbleiben würde; sie müsse ihn einfach gehen lassen, wenn er gehen wolle, erklärte ich ihr.
Das war ihr aber ganz und gar nicht recht, und so begann der zweite Abschnitt in der schicksalhaften Verwicklung, die zum heutigen Ergebnis geführt hat. Meine Nichte war nämlich auf einmal auf die Idee gekommen, ich solle doch einmal mit Fabian reden. Reife Frauen über 40 – ich bin 43, während meine Nichte 19 ist und Fabian 23 – würden sich doch bei „solchen Sachen“ auskennen, und bestimmt würde ich es herausbekommen, wie es nun wirklich um Fabian bestellt sei, wenn ich mir nur die Mühe machte, ihn ein bisschen auszufragen. Womöglich könnte ich, so meinte sie, ihn auch gleich in die richtige Richtung leiten. Und die richtige Richtung war für meine Nichte natürlich die, dass Fabian ihr erhalten blieb, solange sie Lust auf ihn hatte. Reife Frau hin oder her – diese Rolle als Vermittlerin zwischen den beiden passte mir ganz und gar nicht. In Beziehungen soll man sich nie einmischen. Und auch wenn ich meiner Nichte insofern zustimmte, als reife Frauen – die sie übrigens nur reife Frauen nennt, wenn sie mir schmeicheln will; ansonsten sagt sie eher respektlos und rücksichtslos grob alte Weiber oder sogar alte Jungfern, denn ich bin Single und war nie verheiratet – tatsächlich mehr Lebenserfahrung besitzen, das heißt aber doch noch lange nicht, dass sie nun prädestiniert dafür sind, als Beraterin bei Liebes- und Beziehungsproblemen zu fungieren. Aber sie bat und bettelte so lange, dass mir am Ende gar nichts anderes übrig blieb, als zähneknirschend und höchst unwillig diese Rolle zu übernehmen. Allerdings erklärte ich meiner Nichte gleich, dass sie selbst dafür sorgen müsse, mir eine passende Gelegenheit zu verschaffen. So weit er niedrigen würde ich mich nicht, dass ich selbst auf Fabian zuging. Das Gespräch, das meine Nichte von mir verlangte, musste sich schon sozusagen von alleine ergeben. Meine Nichte war auch recht geschickt daran, mir diese Gelegenheit zu verschaffen. Schon am Sonntag darauf kreuzte sie nachmittags mit Fabian bei mir auf. Sie hatte sich nicht angekündigt gehabt, weshalb ich auch nichts hatte vorbereiten können; und so hatte ich natürlich keinen Kuchen da. Flugs erklärte meine Nichte sich bereit, schnell irgendwo in einer am Sonntag geöffneten Konditorei noch Kuchen zu besorgen. Als sie Fabians Angebot mitzukommen ablehnte, wusste ich dann sofort, woher der Wind wehte – das war ihr Plan, um mir ein wenig Zeit mit Fabian alleine zu verschaffen, damit ich ihn ausfragen konnte, wie ich das versprochen hatte.