Wieso ausgerechnet ich? Wieso immer ausgerechnet ich? Bin ich etwa der persönliche Hanswurst meines Chefs? Ja, ganz offensichtlich. Jedenfalls bin ich für jeden Scheiß zuständig, zu dem er keine Lust hat. Er hat zu sehr viel keine Lust, und meistens sind es natürlich die unangenehmen Dinge. Er könnte mir ja auch mal ein paar angenehme Dinge abtreten. Mir ein paar Theaterkarten zu einem Stück geben, in dem ein Klient von uns auftritt, die er uns geschenkt hat, damit ich mir das Stück ansehen kann. Mich zum schicken Abendessen mit einem Kollegen gehen lassen, bei dem man sich über einen möglichen Vergleich unterhält, um einen Rechtsstreit zu vermeiden. Mich zu den einfachen Terminen gehen lassen, wo man nur die Anträge stellen muss und den Rest macht das Gericht. Mir die einfachen Fälle geben.
Aber nein – statt dessen bekomme ich immer die Akten, die aus mehreren dicken Leitz-Ordnern bestehen, wo manchmal die Frist schon versäumt ist, statt dessen bekomme ich die Termine, wo man einen ganzen Nachmittag einer Zeugenbefragung oder einer Sachverständigenerörterung opfern muss und trotzdem noch sehen, wie man abends noch ein paar Mandanten empfängt und die Arbeit erledigt, die bis zum nächsten Tag getan sein muss. Und ich bin diejenige, die seinen Porsche zur Inspektion bringen muss, während der Arbeitszeit, und wenn ich dann zwei Stunden später damit zurück bin – nicht dass es nicht Spaß machen würde, Porsche zu fahren -, dann erwartet mich ein ganzer Stapel Telefonnotizen und es sitzen nicht nur meine Klienten im Wartezimmer, ungeduldig, weil ich mich verspätet habe, sondern auch noch zwei von seinen, die er einfach keine Lust hat zu sehen. Er herrscht in unserer Kanzlei wie ein Despot – und ich mache es mit. Ich brauche nämlich das Geld. Mein Ex-Mann hat Schulden gemacht, für die ich selbstverständlich mit unterschrieben habe. Und da er keinen Cent verdient, darf ich sie dafür jetzt ganz alleine abzahlen. Und Unterhalt an ihn noch dazu. Würde ich meine Stelle in der Anwaltskanzlei aufgeben, würde er mich auf fiktiven Unterhalt verklagen, das hat er schon gesagt, denn schließlich bin ich dazu verpflichtet zu arbeiten (und was ist mit ihm???) und darf nichts tun, was meinen Job gefährdet.
So kommt es auch, dass ich an einem Samstag Morgen, an einem freien Wochenende, unterwegs bin nach Frankfurt zum Flughafen, um einen Freund meines Chefs abzuholen, der aus Amerika zu Besuch kommt. Er hat mal wieder – na, ratet mal? Genau, keine Lust. Er will nicht so früh aufstehen, er will die lange Fahrt nicht machen, also muss ich ran. Natürlich könnte ich mich weigern. Ich bin Angestellte, kein Sozius. Und von „Freude des Arbeitgebers vom Flughafen abholen“ und ähnlichen Dingen steht kein Wort in meinem Arbeitsvertrag. Ich bin hier als Anwältin, nicht als Dienstmädchen. Aber was würde mir das bringen? Entweder schmeißt er mich gleich ganz raus, oder er macht mir nächste Woche die Arbeit zur Hölle. Noch mehr als ohnehin schon, meine ich jetzt. Nein, ich habe schön brav zugestimmt und ihm versprochen, ihm seinen Freund pünktlich zum Frühstück in seinem Privat Haus abzuliefern. Deshalb bin ich um sechs aufgestanden, habe mich schnell fertig gemacht – ohne mir allzu große Mühe mit Make-up oder mit meiner Kleidung zu geben, denn schließlich bin ich ja nur der Chauffeur und nicht mehr, und stehe nun anderthalb Stunden später in einer Halle, in der es von Menschen nur so wimmelt, ein Schild in der Hand, auf dem mit großen Buchstaben der Name meines Chefs steht.
Ich habe keine Ahnung, wer gleich, wenn die Flut von innen sich mit der Flut von außen vermischt, auf mich zukommen wird. Ich weiß seinen Namen, Robert Brown, aber mehr auch schon nicht. Ich weiß nicht, ob er groß oder klein ist, dick oder dünn, jung oder alt. Ich weiß nur, wenn er ein Freund von meinem Chef ist, werde ich ihn ganz bestimmt nicht mögen. Ohne großes Interesse betrachte ich mir die Menschenmassen. Auf dem Flug waren auch ein paar Afroamerikaner. Sie fallen einfach auf. In Deutschland gibt es nun einmal nicht so viele Schwarze. Außerdem, bilde ich mir das ein, oder haben die Afroamerikaner tatsächlich eine ganz besondere Art, sich zu bewegen, so, nun ja, graziös ist das erste Wort, das mir als Beschreibung dazu einfällt, aber das trifft es nicht so ganz, denn irgendwie ist graziös ein weibliches Adjektiv, und die schwarzen Männer bewegen sich ähnlich, ohne deswegen im geringsten weiblich zu wirken.
Ach, ist mir doch auch egal, was das richtige Adjektiv wäre. Ich stehe hier mit meinem blöden Schild und warte. Trotzdem kann ich nicht umhin, einen dieser Schwarzen immer wieder anzustarren. Er besitzt einfach eine solch starke Ausstrahlung. Selbst über die Distanz hinweg, mitten im Strom anderer Menschen, die gegen seine dunkle Haut alle blass wirken. Er hat meinen Blick bemerkt, erwidert ihn. Oder war es anders, hat mich sein Blick zu mir auf ihn aufmerksam gemacht? Er lächelt mich an. Es ist wie ein Geschenk. Mir wird ganz warm, und ich denke, allein schon wegen dieses Lächelns hat es sich gelohnt, so früh aufzustehen. Leider wird man kleiner Interracial Flirt nicht lange dauern; gleich wird er sich an mir vorbei schieben und zum Ausgang gehen. Schade. Doch von wegen – er kommt direkt auf mich zu. Oh Gott! Findet er mich etwa interessant? Interessant genug, mich anzusprechen? Mein Herz klopft. Tatsächlich, er bleibt direkt vor mir stehen. „Sie kommen für Mr Stetten?„, fragt er mich, mit einem amerikanischen Akzent, aber in einwandfreiem Deutsch.