Als ich meinen Vater endlich, schon kurz vor der Treppe zum entsprechenden Gleis, wo der Zug abfahren sollte, zu dem er mich gebracht hatte, überreden konnte, gleich wieder nach Hause zu fahren und nicht auf die Zugabfahrt zu warten, atmete ich auf. Ich hatte schon fast befürchtet, er wolle sich als fürsorglicher Vater zeigen und seine Tochter, eine frisch gebackene junge Studentin im ersten Semester, direkt zum Zug begleiten und darauf achten, dass sie auch wirklich einstieg. Und mit dem Zug wieder ab düste in Richtung Studienort. Das hätte meine ganzen Pläne zunichte gemacht.
So aber gab ich ihm einen Kuss auf die Wange, winkte ihm noch einmal fröhlich zu, nahm meine riesige Reisetasche mit der ganzen frisch gewaschenen Wäsche, marschierte ein paar der Stufen zum Gleis hoch, wo in ein paar Minuten der Zug abfahren würde, der mich in meine kleine Studentenbude zurückbringen sollte, und wartete ein paar Minuten. Oben war jetzt der Zug eingelaufen und wieder abgerauscht, und unten war hoffentlich mein Vater schon längst wieder im Auto und auf dem Weg zurück. Einen kurzen Augenblick hatte ich ein ziemlich schlechtes Gefühl. Nicht unbedingt, weil ich meinen Vater belogen hatte. Aber wegen dem Grund, weswegen ich ihn belogen hatte. Was, wenn Patrick mich jetzt verarscht hatte? Er war doch immer ein unzuverlässiger Tunichtgut gewesen; gerade das machte ihn ja so faszinierend. Sofern man nicht auf ihn baute. Ließ er mich jetzt im Regen stehen, dann stand ich da, hatte meinen Zug um acht verpasst, würde den um zehn Uhr nehmen müssen, also zwei Stunden warten, und lange nach Mitternacht endlich in Mannheim eintreffen. Ich hatte am nächsten Morgen erst um zehn Uhr Vorlesung; so war dieser ganze total verrückte Plan ja erst entstanden. Insofern war das also kein Beinbruch; ich musste nicht früh aufstehen. Aber die Enttäuschung, wenn Patrick mich jetzt hätte hängen lassen, hätte mir mehr als nur den Abend verdorben.
Ich kramte mein Handy aus meinem kleinen Rucksack und wählte die Nummer, die ich erst am Tag zuvor dort einprogrammiert hatte. Als Patrick mir ganz zufällig über den Weg gelaufen war. Patrick war das Enfant Terrible in unserer Klasse gewesen. Das war so in der Grundschule, und das war auch so auf dem Gymi. Wenn irgendwo etwas angestellt worden war, dann war er garantiert dabei. Als wir noch jünger waren, fand ich ihn unausstehlich; wenn ich auch öfter mal mit ihm spielte, weil seine Eltern einfach ganz in der Nähe von meinen wohnten. Das alles änderte sich jedoch schlagartig, als wir dann endlich in das reifere Teeny Alter kamen. Was mir früher als kindisch und dumm erschien, nämlich dass Patrick ständig gegen alle Regeln verstieß, das machte ihn mit 18 gerade erst so richtig interessant. Deshalb herrschte bei ihm auch kein Mangel an willigen Teen Girls, die nur zu gerne bereit waren, mit ihm zu gehen. Angeblich hatte er es auch schon mit mehreren von ihnen getrieben, so ging das Gerücht um.
Beinahe wider Willen fand auch ich ihn wahnsinnig interessant. Er besaß das verwegenste Aussehen und die dunkelste Stimme von allen Teen Boys in meiner Klasse. Und wenn er auch gemeinhin mehr wie ein Raubein auftrat, mir gegenüber war er immer ausgesprochen höflich und zuvorkommend. Ein paar der anderen Teenys hatten mich schon damit aufgezogen, dass er ganz bestimmt heimlich in mich verliebt war. Zumindest war ich heimlich in ihn verliebt; aber meinen Eltern hätte ich das nie erklären können, dass ich ausgerechnet mit Patrick zusammen war. Und etwas in mir sagte mir, damit hätten meine Eltern sogar recht. Patrick war ein Mann für einen One Night Stand – und für den war ich als 18-jähriges Schulmädchen einfach noch zu jung -, nicht für eine feste Beziehung. So kam es, dass ich bis zum Abitur nie mit ihm zusammen aus war; auch wenn er mich mehrfach eingeladen hatte. Es war offensichtlich gewesen, dass er um mich geworben hatte. Trotzdem war ich nie ernsthaft in Versuchung gewesen, dem nachzugeben. Auch wenn ich abends manchmal heimlich noch lange wach lag und davon träumte, wie das wohl wäre, in seinen Armen zu liegen. Damals jedoch war ich noch naiv genug, von einem erotischen Abenteuer mehr zu erwarten als nur guten Sex.
Dann kam der Abschluss, ich ging nach Hamburg, um in der Firma meines Onkels ein mehrmonatiges Praktikum zu machen – und mir ganz nebenbei ein bisschen Geld zu verdienen, was helfen sollte, mir mein späteres BWL Studium zu finanzieren -, und Patrick und ich, wir verloren uns aus den Augen. Anschließend hatte ich gerade mal zwei Wochen frei, während denen ich in den wohlverdienten Urlaub verschwand, und schon war es soweit, mit noch immer 18 Jahren, aber immerhin schon einmal kurz vor meinem 19. Geburtstag, begann ich in Mannheim mit dem Studium. Es war eine völlig neue Welt für mich, aufregend, groß, gewaltig. Mein früheres Denken, als ich noch bei meinen Eltern gelebt hatte kam mir nun engstirnig und kleinkariert vor. Innerhalb kürzester Zeit war ich gereift genug, beim erotischen Abenteuer mit einem Mann nicht immer gleich ans Heiraten oder zumindest Zusammenleben zu denken. Nicht einmal ans miteinander Gehen. Nein, ich entdeckte endlich, es war genug, wenn man eine wunderschöne Nacht miteinander verbrachte. Ich entdeckte also die Vorteile des ONS. Jetzt bedauerte ich es, dass ich auf Patricks hartnäckiges Werben um mich nicht eingegangen war. Auch wenn daraus auf Dauer nichts geworden wäre – bestimmt hätte ich so wenigstens ein richtig aufregendes Erlebnis gehabt. Denn ich war mir sicher, Patrick war weit interessanter als meine Mitstudenten, die mir sehr schnell dann doch ziemlich langweilig vorkamen. Tja, aber diese Gelegenheit hatte ich versäumt, so dachte ich.