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17. August 2009

Wie das Leben so spielt …

Ich hatte den höhnischen Ton seiner Stimme noch sehr genau im Ohr. „Leck mich am Arsch!„, hatte er gesagt. Kein besonders wohl erzogener Ausdruck, aber er hatte noch nie einen auf Gentleman gemacht. Früher, in der Schule, als wir noch alle Teens waren, da spielte er den jungen, verwegenen Piraten, den Rebellen, dem Regeln und Vorschriften gleichgültig sind und der tat, was er wollte. Und jetzt war er auch nicht gerade ein Gentleman; allerdings aus ganz anderen Gründen … Ja, wie das Leben so spielt; da hatte sich einiges geändert in der Zeit zwischen dem Abitur und diesem Klassentreffen, wo wir uns – fast – alle wiedersahen.

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Ein paar wenige waren nicht gekommen, aber ansonsten versammelte sich nahezu die gesamte Klassenstufe von damals in unserer alten Schule. Manche konnte man schon kaum noch wiedererkennen, so sehr hatte der Zahn der Zeit an ihnen genagt, obwohl unser Abitur gerade mal erst 20 Jahre her war. Ende 30 waren wir jetzt alle, und damals waren wir 18 und 19 gewesen. Damals lag das gesamte Leben noch vor uns, jetzt hatten wir über die Hälfte davon bereits hinter uns. Und es war wirklich erstaunlich, was einige von uns daraus gemacht hatten. In den meisten Fällen – nichts … Gerade die früher mal Hoffnungsvollsten und Erfolgreichsten konnten bei diesem Klassentreffen komischerweise in den meisten Fällen eben nicht mit beruflichem und privatem Erfolg glänzen. Darunter war auch er; der verwegene Pirat, den ich hätte am Arsch lecken sollen, Jens Köster. Von seinen schulischen Leistungen her war er nie eine große Leuchte gewesen, aber er war die ultimative Sportskanone, immer Klassensprecher, oft genug auch Schulsprecher, immer dabei, wo etwas los war, und immer umschwärmter Mittelpunkt zuerst bei den anderen Jungs und dann, als die beiden Geschlechter sich für ihre Gegenstücke zu interessieren begannen, auch bei den Mädchen. Er war der Liebling aller gewesen; nur die Lehrer sahen das etwas anders, aber was interessierte es uns damals schon, was unsere Lehrer dachten … Auch heute spielte das keine Rolle für uns; zumal etliche von ihnen sogar schon pensioniert waren.

Trotzdem hatte sich die Meinung der anderen mittlerweile der unserer ehemaligen Lehrer angenähert, denn Jens‘ Leben war in jeder Hinsicht ein Reinfall gewesen. Er hatte es zuerst mit einem BWL Studium versucht, das er später abgebrochen hatte, war noch ein paar Jahre lang der Schwarm aller jungen Frauen gewesen, dann hatte er geheiratet und seine Frau mit seinen Affären zur Verzweiflung getrieben, einen Gebrauchtwagenhandel an die Wand gefahren, anschließend einen Zeitungskiosk, und seit er keinen Sport mehr trieb, hätte sich eine einigermaßen selbstbewusste und attraktive Frau nach ihm nicht einmal mehr einmal umgedreht, geschweige denn zweimal. Es war nicht einmal so, dass er nun völlig aus dem Leim gegangen wäre – er sah nur einfach nicht mehr gut aus. Eher langweilig, schal, öde, als ob ihn das Leben überrollt und als leere Hülle zurückgelassen hätte. Mit mir hingegen war es genau umgekehrt. Ich war damals immer das graue Entchen gewesen, die hässliche Streberin, die zwar gute Noten hatte, aber mit der niemand so recht befreundet sein wollte. Um die die Jungs, und wenn sie noch so geil auf Sex waren mit 18, einen weiten Bogen machten. Das hatte ein Gelächter gegeben, als ausgerechnet ich mich ausgerechnet in Jens Köster verliebt hatte, den beliebtesten Jungen der Schule. Ich war so dumm gewesen, es meiner angeblich besten Freundin zu erzählen, und die hatte es gleich überall hinausposaunt.

Tapfer hatte ich es durchgestanden, den ganzen bösen Tratsch, und bei unserer Abschlussparty hatte ich sogar den Mut gehabt, bei einer Runde Damenwahl Jens zum Tanzen aufzufordern. Was mir deshalb möglich gewesen war, weil ich – nicht ganz zufällig – direkt neben ihm stand und so schneller sein konnte als die anderen Girls, die sich konstant um seine Aufmerksamkeit prügelten. Und wisst ihr, was er dabei zu mir gesagt hat? Ihr ahnt es sicher schon. Ja, genau – ich solle ihn am Arsch lecken, hat er gemeint. Das habe ich ihm nie vergessen oder verziehen. Auch nicht, als ich es längst nicht mehr nötig hatte, irgendwelchen Jungs oder Männern hinterherzulaufen. Ich bin als Moderatorin beim örtlichen Radiosender recht bekannt und erfolgreich, und seit ich eine Typberatung und auch ein paar kleinere chirurgische Eingriffe hinter mir habe, stecke ich auch vom Aussehen her alle anderen Frauen aus meinem Jahrgang mit links in die Tasche, und sogar eine ganze Menge der jüngeren Frauen.

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Tja, so hatten die Zeiten sich geändert – dass nun Jens von allen links liegen gelassen wurde und sich um mich alles scharte. Wer hätte das gedacht … Aus dem hässlichen Entlein war ein schöner Schwan geworden, und aus dem Frauenschwarm ein platter, öder alter Knochen, der nicht einmal einen Hund hinter dem Ofen hervorgelockt hätte. Ich wunderte mich, warum Jens überhaupt aufs Klassentreffen gekommen war. Für ihn musste es doch besonders schmerzlich sein, das Wiedersehen und die Erinnerung an die Zeit damals, als er noch der Liebling aller war. Vielleicht war es eine perverse Form von Masochismus, die ihn antrieb? Es war mir egal. Ich hatte nur ein Ziel, und war fest entschlossen, es zu erreichen. Es hatte etwas mit seinem Spruch von damals zu tun. Vielleicht könnt ihr es euch schon denken, was ich mir dabei vorstellte … Die Aufmerksamkeit von Jens zu wecken, das war nicht schwer. Wie gesagt, bei dem Klassentreffen war ich ganz anders als zu Schulzeiten der umschwärmte Mittelpunkt, und so, wie ich damals versucht hatte, mich an ihn heranzumachen, so versuchte er nun, mir näher zu kommen. Ich schäme mich ein wenig, es zuzugeben, aber ich bin ihm damals wirklich nachgelaufen; sogar eine ziemlich lange Zeit. Allerdings nicht mehr, nachdem er mich auf der Party vor allen anderen bloßgestellt hatte.

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14. August 2009

Damals blau, heute grau – versaute reife Frau

Das ist mir das letzte Mal mit 18 oder 19 passiert, dass ich einem Mann in die Augen gesehen habe, und der Blick ging durch mich hindurch wie ein Pfeil, körperlich spürbar. Damals wie heute war es ein Mann Mitte 20; wenn es auch heute ein ganz anderer Mann ist. Der graue Augen hat, nicht blaue wie der andere früher. Und noch etwas hat sich geändert – ich bin keine 18 mehr, sondern 48. Vor 20 Jahren, da war es ein Bahnbeamter. Er hat auf dem Bahnhof gearbeitet, wo ich immer eingestiegen bin, um zu der Firma in der Nachbarstadt zu kommen, wo ich ein Praktikum gemacht habe. Damals war das noch nicht so wie heute auf den Bahnhöfen, alles elektronisch und so. Da musste man sich die Fahrkarte noch am Schalter kaufen und es gab haufenweise echte Menschen auf einem Bahnhof, die alle möglichen Aufgaben zu erfüllen hatten, die heute von Computern übernommen werden.

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Es war gleich am zweiten Tag morgens. Ich hatte dem Schalterbeamten erklärt, dass ich eine Rückfahrkarte wollte – ich hatte mir das genau ausgerechnet und festgestellt, dass Einzel-Fahrscheine billiger waren als eine Monatskarte, weil mein Vater auch bei der Bahn war und ich die Fahrkarten also billiger bekam -, und er bereitete alles vor. Hinter ihm an den großen Hebeln war ein junger Mann beschäftigt, von dem ich einstweilen nur die blonden Locken und den Rücken sehen konnte. Dann drehte er sich um, und ich stellte fest, er hatte die blauesten Augen der Welt. Sie weiteten sich sichtbar, als er mich zu sehen bekam, und er starrte mich an, als sei ich das achte Weltwunder. Ich kam mir vor wie vom Blitz getroffen, und ich konnte mich nicht rühren. Ich reagierte nicht einmal, als der Schalterbeamte mir die Fahrkarte durch das halb runde Loch reichte. Leider kam dann mein Zug, und ich musste hinaus; aber dabei löste ich so lange es sich machen ließ die Augen nicht von dem blonden jungen Mann mit den blauen Augen. Seit diesem Tag suchte ich immer ganz begierig den Bahnhof ab, wenn ich losfuhr oder ankam, ob er da war. Meistens war er es, und er schien ebenfalls nach mir Ausschau zu halten, so hatte ich wenigstens den Eindruck. Unsere Blicke waren immer wie beim ersten Mal; hungrig, intensiv. Aber wir haben nie auch nur ein Wort miteinander geredet. Er traute sich wohl nicht, mich anzusprechen, und ich war mit 18 zu schüchtern, um auf einen fremden Mann zuzugehen. Dann ging ich nach dem Praktikum zur Uni, und ich vergaß ihn nie, habe ihn dann aber auch nie mehr gesehen, auch nicht, wenn ich alle paar Wochenenden nach hause fuhr. Wahrscheinlich wurde er zwischenzeitlich versetzt.

Es war ebenfalls ein Zufall, der mich jetzt süchtig nach nicht blauen, sondern grauen Augen gemacht hat. Es geht um den Sohn eines Versicherungsvertreters, der im Nachbarhaus sein Büro hat. Normalerweise habe ich mit ihm nichts zu tun, ich habe auch meine Versicherungen nicht bei ihm abgeschlossen. Wir kennen uns nur vom Sehen und grüßen uns immer freundlich; wir sind eben Nachbarn. Aber dann hat irgendwann der Postbote bei mir ein Paket für ihn abgegeben, weil ich zufällig die Einzige im Nebenhaus war und er gerade nicht im Büro. Ich habe eine eigene kleine Firma, bin also eine Geschäftsfrau. Und ich nutze es bestimmt nicht aus, dass ich die Chefin bin, aber ab und zu nehme ich mir doch die Freiheit, einmal einen halben Tag frei zu machen und die Firma in den Händen meiner zuverlässigen Mitarbeiter zu lassen. Dafür arbeite ich schließlich auch am Wochenende und habe so gut wie keinen Urlaub. Ich denke auch nicht, dass meine Leute meinen, ich würde mir zu viel herausnehmen; die sehen ja alle, wie viel ich arbeite. Ich ließ das Paket vor der Tür stehen und ging nach einer halben Stunde damit nach nebenan. Zweimal habe ich versucht, dem Versicherungsmenschen sein Paket zu bringen, aber nie war er da.

Erst abends habe ich dann sein Auto vor dem Büro gesehen und bin nach drüben, mit dem Paket. Ich klingelte, und dann öffnete mir ein junger Mann, wie gesagt etwa Ende 20, mit dunklen, extrem kurzen Haaren, nur wenige Millimeter lang, also ein richtiger Army Schnitt, und sehr geheimnisvollen grauen Augen, die mich sofort in ihren Bann schlugen. Ich hatte alle Mühe, meinen Spruch mit dem Paket herauszubringen, denn ich war erneut wie im Schock, so wie damals auf dem Bahnhof. Seine Augen ließen mich nicht los, und als er sich bedankte, lächelte er noch. Ein wunderbares Lächeln; offen und warm. Auch wenn die Umstände ganz andere waren und nicht zuletzt ich nun eine reife Frau war, kein Teenager mehr, kam ich mir auf einmal vor wie vor 20 Jahren. Damals hatte ich das Leben noch vor mir gehabt, heute lag es zum größten Teil hinter mir, aber diese fesselnde Faszination, ich konnte sie noch immer spüren. Wieder kam es mir auch vor, als ob mir diese durchdringenden Augen etwas sagen wollten.

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Aber ich war nun keine 18 mehr; und mochte dieser junge Mann auch noch so schüchtern sein – reife Frauen haben es gelernt, wie kurz das Leben ist, und wie schnell eine Gelegenheit versäumt. Das Paket unter einem Arm balancierend, denn er hatte es mir noch nicht abgenommen, streckte ich die rechte Hand aus, und als er mir seine reichte, hielt ich sie fest. Viel fester und viel länger, als es für einen normalen Handschlag und eine knappe Vorstellung üblich war. Dabei sah ich ihn unverwandt weiter an und er erwiderte den Blick, während er, heiser und ersichtlich mit seinen Gefühlen im Aufruhr, erklärte, er sei der Sohn. Hätte ich nicht in diesem Augenblick die Stimme seines Vaters gehört, der anscheinend gerade am Telefonieren war, ich hätte noch mehr gesagt, vielleicht sogar getan. Aber in einem sind reife Frauen ab 40 nicht mehr ganz so unbekümmert – und zwar, was die Meinung anderer Leute angeht. Ich hätte es nie gewagt, in Gegenwart des Vaters offen mit dem Sohn zu flirten. Das hätte sich einfach nicht gehört. So musste ich trotz größeren Mutes jetzt mit über 40 letztlich doch erneut unverrichteter Dinge wieder abziehen, nachdem ich das Paket abgegeben hatte. Aber so einfach würde ich mich nicht abspeisen lassen!

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