27. April 2009

Reife Frau im zweiten Frühling – Die zweite Chance

Als ich Anfang 20 war und eine junge Studentin war Volker mein Hausarzt. Ich hatte mich auf Anhieb in ihn verliebt. Bei einigen Gelegenheiten hatte ich ihm das auch mehr oder weniger dezent deutlich gemacht. Wahrscheinlich ziemlich ungeschickt; so wie junge Mädchen ohne viel erotische Erfahrung nun einmal sind. Er ist jedoch nie darauf eingegangen. Er war damals schon Mitte 30 – wahrscheinlich war ich ihm einfach zu jung und unerfahren. Außerdem war er frisch verheiratet, mit zwei kleinen Söhnen. Sehr energisch bin ich in meinen Annäherungsversuchen nie geworden, denn er war ein zu guter Arzt, als dass ich das wegen einer bloßen Laune, als die ich meine Verliebtheit damals ansah, aufs Spiel hätte setzen wollen. Mangel an Sex herrschte bei mir damals nicht, auch wenn das für mich völlig neu war, denn als Schülerin war ich immer sehr brav gewesen – aber nichts davon nahm ich so richtig ernst. Auch nicht die Sache mit Volker. Dann habe ich mein Studium beendet, bin für meinen ersten Job ziemlich weit weg gezogen, habe nach etlichen selbst geheiratet. Kinder habe ich allerdings keine. Nach einer Weile begann es in der Ehe zu kriseln. Irgendwann stellten wir beide übereinstimmend fest, wir hatten uns auseinander gelebt. Eine Scheidung war der automatische nächste Schritt. Obwohl ich sie selbst gewollt hatte fühlte ich mich anschließend ruhelos, heimatlos. So, als hätte mir einer meine Wurzeln abgehackt. Nun war ich ja auch schon Anfang 40 und damit eine reife Frau. Da weiß man so langsam, dass man über die Hälfte des Lebens hinter sich hat.

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Man hat seinem Leben eine bestimmte Richtung gegeben und sich damit auch selbst eingesperrt, eingegrenzt, beschränkt – und die Möglichkeiten, aus diesen Grenzen noch auszubrechen, sind sehr begrenzt. So langsam wird man sich als reife Frau ab 40 auch bewusst, dass man einige Chancen versäumt hat; im Zweifel unwiederbringlich. Mein Leben hätte auch ganz anders aussehen können – aber im Zweifel war es jetzt schon längst zu spät, ihm eine andere Richtung zu geben. Das alles wurde mir mit schneidender Schärfe bewusst, als ich so da stand, frisch geschieden, 42 Jahre alt, recht erfolgreich in meinem Beruf, aber genaugenommen durch und durch unzufrieden mit meinem gesamten Leben. Vielleicht war es die Illusion, doch noch einmal von vorne anfangen zu können, die mich dazu bewogen hat, ein völlig überraschendes Job-Angebot anzunehmen, das mich ausgerechnet in dieser Zeit erreichte. Im Rahmen eines Projektes, das gemeinsam von einigen Wirtschaftsunternehmen und der Universität, meiner alten Universität, auf die Beine gestellt worden war, sollte ich Mitglied des Evaluierungs-Teams werden. Noch wenige Monate zuvor hätte ich sicherlich einfach abgelehnt – aber in genau dieser Situation kam mir das wie ein Wink des Schicksals vor. Ich fühlte mich wurzellos – vielleicht konnte ich mir genau dort, wo mein Leben als Erwachsene angefangen hatte, neue Wurzeln schaffen. Ich sagte zu – und schon zwei Monate später war alles geregelt und ich wohnte nun, noch nicht sehr komfortabel, aber für die Übergangszeit mehr als ausreichend, in einer kleinen Wohnung in der Stadt, in der ich studiert hatte, bis ich eine neue Wohnung gefunden hatte. Dazu kam es dann gar nicht mehr – doch dazu später.

Alte Bekannte von damals aufzusuchen war mir zunächst gar nicht in den Sinn gekommen. Es war erst als mich eine hartnäckige Erkältung erwischt hatte, wenige Monate später, im darauf folgenden Winter, die einfach nicht wieder verschwinden wollte, und als ich infolge dessen einen neuen Hausarzt suchte, dass ich auf den ersten vertrauten Namen stieß – Volker. Es gab ihn noch immer, er war noch immer Arzt. Vielleicht wäre es vernünftiger gewesen, aus dem Neuanfang in der alten Stadt einen richtigen Neuanfang mit völlig neuen Kontakten und Adressen zu machen, aber ganz spontan entschloss ich mich dazu, doch einen Termin bei Volker auszumachen statt bei einem anderen Allgemeinarzt. Viel nachgedacht hatte ich dabei nicht. Erst als ich mich schon einige Stunden später – ich hatte sofort einen Termin bekommen, weil ich es auch ziemlich eilig gemacht hatte, noch für denselben Nachmittag – auf den altvertrauten Weg in seine Praxis machte überschlugen sich meine Gedanken dafür umso mehr. Beinahe wäre ich wieder umgekehrt. Der Gedanke, jetzt, nach fast 20 Jahren, Volker wieder zu begegnen, der inzwischen ja Mitte 50 sein musste, verursachte mir ebenso viel Unbehagen, wie er mich zuerst spontan begeistert hatte. Obwohl – damals waren die fast 15 Jahre Altersunterschied riesig gewesen. Jetzt, wo wir beide über 40 waren, ich als reife Frau und er als reifer Mann, kam er mir auf einmal gar nicht mehr groß vor. Trotzdem – was hatte es denn für einen Sinn, „olle Kamellen“ wieder aufzuwärmen? Dann bekam ich wieder einen Hustenanfall und beschloss, jetzt nicht weiter zu grübeln sondern mir einfach ein Rezept abzuholen. Ich brauchte nun einmal dringend einen Arzt – und warum dann nicht Volker? Was später daraus werden würde konnte man ja immer noch sehen. Vielleicht erkannte er mich ja auch gar nicht wieder. Oder vielleicht fand ich ihn heute nicht mehr halb so interessant wie damals? Dann konnte ich mir ja immer noch einen neuen Hausarzt suchen. Ich musste es einfach als eine Erfahrung betrachten, die sicherlich ganz nützlich war. Und zwar auch ohne gleich daran zu denken, wie ich an Vergangenes anknüpfen konnte. Schließlich war da ja eigentlich auch gar nichts, woran ich hätte anknüpfen können; außer an ein sehr gutes Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Immerhin ja auch schon wertvoll genug.

Als ich ankam war das Wartezimmer brechend voll. Natürlich – man hatte mich ja auch irgendwie dazwischen geschoben. Ich stellte mich auf ein, zwei Stunden Wartezeit ein. Wenn man einen solchen Notfall-Termin bekommt, ist das ja auch akzeptabel. Auf den nächsten regulären Termin hätte ich über eine Woche warten müssen; Volker schien ganz gut zu tun zu haben. Das freute mich für ihn. Ich hatte jedoch noch keine Viertelstunde im Wartezimmer gesessen, da stand Volker in der Tür. Ich erkannte ihn sofort wieder. Er war grauer geworden, aber seine Haare waren noch immer füllig. Und lockig. Wie mich seine ungebärdigen Locken immer begeistert hatten als Studentin … Auch ein wenig stämmiger war er geworden, aber ich musste zugeben, er sah noch immer irre gut aus. Vor allem hatte er noch immer diese äußerst lebendigen dunklen Augen, die konstant zu lachen schienen. Nur sprachen ein paar Fältchen um sie herum eine etwas andere Sprache; das waren nicht bloß Lachfältchen. Bestimmt hatte er in den letzten 20 Jahren auch das eine oder andere Schwere erlebt. Sein Blick glitt über die Patienten hinweg, die ihn alle erwartungsvoll ansahen, und blieb an mir hängen. „Carola?„, sagte er; nicht ungläubig, nicht staunend, sondern eher ganz selbstverständlich und ein wenig befehlend. Ich lächelte ihn an. „Kommst du bitte gleich zu mir?„, forderte er mich auf. (Wir hatten uns damals geduzt.)

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Das überraschte mich nun doch etwas. Ich vermutete, dass man ihm eine Liste der Nachmittagspatienten hingelegt und er womöglich meinen Namen erkannt hatte; ich hatte nach der Scheidung meinen Mädchennamen wieder angenommen. Verraten will ich den nicht; aber ich versichere euch, der ist ungewöhnlich genug, dass er auffällt. Dass er mich um der alten Zeiten willen dann vielleicht vorab einmal begrüßen wollte, das hätte ich sehr gut verstanden und hätte mich auch riesig darüber gefreut. Aber dass er mich einfach vor den ganzen anderen dran nahm, die alle schon länger ihren Termin hatten und zum Teil wohl schon recht lange hier saßen, das erstaunte mich. Es löste auch sofort ein leises Murren aus. „Ich – ich kann gerne noch warten„, meinte ich unsicher. Er schüttelte den Kopf. „Nein, Carola, das ist ein absoluter Notfall„, erklärte er. „Und ich bin sicher, meine Patienten verstehen das. Schließlich bin ich für sie auch immer da bei einem Notfall.“ Mit einem liebenswürdigen Lächeln in die Runde winkte er mich heran. Nun, da blieb mir wohl nichts anderes übrig, als ihm ins Untersuchungszimmer zu folgen. Zumal das Murren nach seiner Erklärung sofort verstummt war.

Ein bisschen grinsen musste ich nun doch, unterdrückte es aber auf dem Weg nach hinten. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte kicherte ich los. Er fiel in mein Lachen mit ein. „Habe ich das gut gemacht?„, fragte er mich und meinte dann: „Und jetzt lass dich umarmen! Mich hat ja beinahe der Schlag getroffen, als ich gerade deinen Namen gelesen habe! Ich freue mich so, dich zu sehen!“ Er wartete meine Antwort gar nicht erst ab, sondern zog mich in seine Arme. Ich kam mir wirklich vor wie 20 Jahre zurück versetzt. Damals hatten wir uns auch öfter mal umarmt. Für Studentinnen gehört das einfach dazu, und Volker war damals noch jung genug gewesen, diese Masche mitzumachen. Die für mich bei den meisten Menschen nichts anderes war als die physische Entsprechung einer hohlen Höflichkeitsfloskel zur Begrüßung oder zum Abschied, die ich bei ihm aber immer sehr genossen hatte. So kurz sie auch jeweils nur gedauert hatte. Doch jetzt war irgendetwas anders. Es strömte zwar immer noch der alte Geruch von ihm aus, etwas antiseptisch, etwas zitronig von seinem Aftershave, und überhaupt ganz Volker eben. Aber die Umarmung war anders, als es damals die Umarmungen immer gewesen waren. Nicht so gleichgültig. Nicht so freundschaftlich, mehr … voller Leidenschaft, voller Gier. Es überwältigte mich.

Erneut setzte mein Denken aus, ich reagierte nur noch spontan, überließ mich der Gier und der Leidenschaft, formte meinen Körper so, wie ich ihn damals schon so gerne geformt hätte, nur hatte es damals eben einfach nicht gepasst, und zwar so, dass wir eine Einheit bildeten. Wenn ich mich ganz eng an Volker schmiegte kam es mir so vor, als seien wir richtig füreinander gemacht. Mein Kopf lag genau in seiner Halskuhle, und der Rest unserer Körper verschmolz miteinander. Das heißt, seine Halskuhle, wo eine Ader heftig pochte, das war der Platz, wo mein Kopf ruhte, bevor Volker ihn mit beiden Händen umfasste und nach oben kippte. Einen kurzen Augenblick lang sahen wir uns in die Augen, und seine schienen ganz tief in mich hineinzublicken, dann legten sich seine Lippen auf meine, und kurz darauf war seine Zunge schon ganz weich und zärtlich in meinem Mund. Wenigstens zunächst zärtlich, aber schnell wurde sie fordernd. Und auch seine Hände wurden es, glitten meinen Rücken entlang, meinen Po, meine Schenkel. Seine Hüften drängten sich immer fester gegen meine, jähe Erregung ließ mich aufstöhnen und ich führte mich auf einmal total leicht, als ob ich schweben würde. Ewig hätte ich so weitermachen können, doch leider kam mir ein blöder Hustenanfall dazwischen, der mich total durchschüttelte.

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Da war Volker dann sofort wieder ganz Arzt, gab mir ein paar Tropfen und hielt mich, nun nicht mehr fest und begehrend, sondern sanft und besorgt, bis es besser wurde. In meinem Kopf brauste das Blut. Nicht nur, weil ich vom Husten erschöpft war, sondern auch aus einem anderen Grund. Damals hatten der Altersunterschied zwischen uns gestanden, seine Ehe und meine Leichtfüßigkeit – man kann es natürlich auch Leichtfertigkeit nennen … -, alles gewichtige Gründe, die es richtig erschienen ließen, dass ich ihn nicht weiter bedrängte. Heute war die Initiative zu mehr als nur reiner Freundschaft endlich einmal von ihm ausgegangen, ich hatte sozusagen eine zweite Chance bekommen – und da sollte mir so ein Hustenanfall alles zerstören? Nein, das würde ich nicht zulassen! Ich lehnte mich an ihn, scheinbar geschwächt, aber in Wirklichkeit nur, um ihm näher sein zu können. Sanft streichelte ich mit meinen Händen über seinen Brustkorb im weißen Kittel. Verdammt schnell ging es dort auf und ab – auch wenn er den besorgten Arzt spielte, da war noch weit mehr in ihm. Das sollte er nicht wieder vergraben und zurückdrängen, ich wollte, dass es endlich nach draußen kam, denn inzwischen vermutete ich, er war damals so verliebt in mich gewesen wie ich in ihn, nur hatte die Vernunft uns beiden im Weg gestanden.

Aber vielleicht hatte er inzwischen wie ich erkannt, dass man es später bedauert, manche Chancen nicht wahrgenommen zu haben. Da lässt man sich eine zweite Chance sicher nicht entgehen. Viel musste ich sicher nicht mehr tun, um ihn zu bekommen, denn haben wollte ich ihn. Und genau das sagte ich ihm nun, heiser, erregt: „Volker, ich will dich!„, während ich meine Hand fest gegen seine Brust presste. Ja, es war genug, um seine Arztfassade erneut zu durchbrechen. Er riss mich an sich, küsste mich auf den Hals, was mich erschauern ließ, und murmelte: „Ich dich auch! Schon immer! Schon damals!“ Ich hätte zerspringen können vor Glück in diesem Augenblick. Lauter Wirbel aus frohen Farben drehten sich in meinem Kopf, immer schneller, immer wilder. Irgendwann lag ich halb auf seinem Schreibtisch, irgendein Stift oder was auch immer presste sich unangenehm in meinen Rücken, aber das machte mir gar nichts aus, denn inzwischen hatte Volker meinen Rock hochgeschoben, und ich hatte ihm mit zitternden Fingern dabei geholfen, bei ihm eine Entsprechung zu schaffen.

Als ich später wieder nach Hause fuhr, kam es mir unglaublich vor, aber wir haben uns tatsächlich geliebt, auf seinem Schreibtisch, im Untersuchungszimmer. Und es war keineswegs nur ein schnelles Abenteuer gewesen; anschließend hatten wir noch ein bisschen miteinander geredet. (Die armen Patienten im Wartezimmer!) Volker war wie ich geschieden, und drängte mich sofort zu einem Wiedersehen. Nicht dass ich dagegen etwas einzuwenden gehabt hätte! Ja, und eine neue Wohnung musste ich dann auch nicht mehr suchen, denn ich konnte bei ihm mit einziehen.

Manchmal erhält man eben doch eine zweite Chance!

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