Der Wecker klingelte um halb vier. Er holte mich nicht aus dem Schlaf, denn der hatte mich sowieso lediglich in überfallartigen Sprüngen heimgesucht. Karl, mein Mann, mit dem ich mich in der letzten zeit nur noch gestritten hatte, stand mit auf. Wie nett von ihm, dachte ich sarkastisch. Dabei war er es, der mich fort schickte. Ausgerechnet über Neujahr. Auf seine Skihütte in den Bergen, wo wir eigentlich beide gemeinsam das neue Jahr hatten beginnen wollen. Nun, daraus wurde dann nichts; angeblich hatte er zu viel zu arbeiten. Statt dessen hatte er einen seiner Freunde gebeten, mich zu begleiten, Georg Jäger. Dem die Skihütte immerhin gehörte; insofern bot sich das an. Er hatte sie uns allerdings großzügig überlassen wollen. Ich wäre lieber ganz allein gefahren, wenn überhaupt, statt die bedeutendste Nacht eines Jahres ausgerechnet mit einem Fremden zu verbringen. Nicht dass ich Jäger nicht mochte; ganz im Gegenteil.
Aber der Streit mit Karl überlagerte einfach alles. Karls Begründung war, dass Jäger ebenso wie ich das Ausspannen dringend nötig hatte. Er hatte sich gerade von seiner Frau Isolde getrennt, was nicht nur mit ihr, sondern auch mit seinen beiden fast erwachsenen Söhnen jede Menge Ärger gebracht hatte. Aber was hatte ich damit zu tun? Wieso durfte ich nicht an Silvester mit meinem Mann zusammen sein, statt diese Nacht mit irgendeinem anderen mann verbringen zu müssen? Gerade weil wir uns in der letzten Zeit so viel gestritten hatten, war es umso bitterer nötig, dass wir endlich einmal Zeit für uns hatten. Aber nein – die Arbeit war ja wichtiger, die ging immer vor. Einen Vorstoß machte ich noch. „Soll ich nicht lieber doch da bleiben?“ Er hätte nur einen kleinen Schritt gehen müssen, erkennen lassen, dass er mich brauchte, mich vermissen würde. Doch er sagte lächelnd, beruhigend, überlegen, gelassen: „Nein – ich möchte, dass du fährst.“ Nun gut; dann war das ja nunmehr endgültig geklärt.
Kurz vor vier kam Jäger mich abholen; mit seinem Wagen, den ich bei mir verächtlich immer nur das Angeberauto nannte, einem Aston Martin. Als wir kurz vor vier im Aston Martin saßen, hatten Jäger und ich noch kein Wort miteinander gesprochen. Karl hatte das Reden für uns alle drei übernommen; er schien regelrecht aufgelöst zu sein, voller Vorfreude, mich endlich loszuwerden. Dass Jäger und ich nichts miteinander sprachen, das änderte sich auch nicht auf dem ersten Teil der Strecke. Wir kamen zügig voran, die Autobahnen waren nahezu leer. Auch nachdem es hell geworden war, wurde der Verkehr nicht viel dichter. Irgendwann hielten wir an einer Raststätte für ein Frühstück, das ich fast unberührt ließ, ebenso wie Jäger. Ich konnte es nicht fassen, ich konnte es einfach nicht fassen. Mehrmals war ich kurz davor, ihn zu bitten umzukehren. Das durfte ja alles nicht wahr sein; die erste echte Auseinandersetzung mit Karl, und dann gleich so massiv, dass alles in Frage gestellt war. Oder war es das nicht, er machte mir nur großzügig ein Geschenk, wie einem kleinen Kind, das man mit einem Spielzeug ruhigstellen will, wenn es sich puterrrot im Gesicht in einem Trotzanfall auf den Boden schmeißt und mit den Füßen trampelt? Die Mühlräder drehten sich in mir, zermahlten etwas zu Staub, das ich für unzerstörbar gehalten hatte; unseren Zusammenhalt. Karls und meinen. Wie war das mit dem Marmorstein … Mir war schon klar, das war kein Bruch; es war nur eine vorübergehende Abweichung vom gemeinsamen Weg. Oder war es vielleicht doch mehr, war es das Ende, bedeutete es die Trennung?
„Jetzt können wir beide zwei Tage lang unsere Wunden lecken„, war der erste richtige Satz, den ich außer praktischen Belanglosigkeiten von mir gab, und da waren wir längst tief im Süddeutschen. Jäger drückte kurz meine Hand, sagte nichts. Wir schwiegen weiterhin die meiste Zeit, bis zur Grenze, bis zu dem kleinen Ort, an dem er den Wagen in einer Garage unterstellte, sich den Schlüssel für die Hütte und irgendein Vierradantriebsteil holte. Die Leute dort, ersichtlich alte Bekannte von ihm, die Eigentümer der Hütte, hielten uns für ein Liebespaar. Mir war es egal. Sie stellten mir Kaffee und Kuchen hin, während Jäger loszog, unsere Verpflegung zu besorgen. Ich schluckte, ohne etwas zu schmecken. Der letzte Teil der Fahrt war mühsam, und einmal blieben wir sogar beinahe stecken, trotz Schneeketten. Trotzdem kamen wir irgendwann an. Die Hütte war nichts Besonderes; einfach nur ein kleiner Kasten aus Holz. In meiner jetzigen Stimmung konnte sie mich nicht beeindrucken; ebenso wenig wie die wirklich atemberaubende Schönheit der verschneiten Bergwelt um uns herum. Jäger trug unser Gepäck hinein, machte Feuer. Eine Zentralheizung gab es hier natürlich nicht, was mir verwöhnter Stadtpflanze schon böse aufstieß. Ich war wie gelähmt, zu nichts fähig, saß zitternd und frierend trotz dicker Steppjacke vor dem Kamin. Er begutachtete die zwei winzigen Schlafkammern, bezog die Betten, packte Kulturbeutel und Nachtzeug aus, verstaute die Lebensmittel. Danach zog er mich hoch. „So, und jetzt machen wir einen kleinen Spaziergang, bevor es ganz dunkel ist.“ Selbst zum Protestieren war ich zu schlaff, ließ mich einfach abschleppen nach draußen.
Wie mit Nadeln stach die kalte Luft, und ringsherum glitzerte es weiß im letzten Tageslicht. Wir waren nicht sehr hoch oben in den Bergen, der Ort unten war noch gut zu sehen, und der Berg stieg nur ganz gemächlich an, von der Senke aus, in der die Hütte stand. Alles, was einen echten Bergsteiger gereizt hätte, war noch endlos weit weg. Trotzdem kam ich mir so vor, als seien wir auf einem fremden, weit entfernten Planeten gestrandet, ohne jede Verbindung zu unserer Heimat. Ganz falsch war das nicht – das Telefon in der Hütte war ausgefallen, wie man uns unten gesagt hatte, und unsere Mobiltelefone fanden kein Netz. Ich hatte keine Möglichkeit, mit Karl in Kontakt zu treten. Aber vielleicht war das auch ganz gut so – bestimmt hätten wir uns doch wieder nur gestritten. Wir umkreisten die Hütte, die ich mich weigerte, aus den Augen zu verlieren, aus Angst, wir könnten uns verirren, obwohl Jäger mir versicherte, er kenne sich hier gut aus, stapften durch teilweise recht hohen Schnee, der uns die Hosen durchnässte und oben in die Winterstiefel eindrang, hinterließen durchweg parallele Spuren, die das Kontrastspiel zwischen schimmerndem Weiß und zunehmenden Schatten bereicherten. Als Jäger ein wenig zurückblieb, dachte ich mir nichts dabei, bis mich der erste Schneeball zwischen die Schulterblätter traf. Wie elektrisiert fuhr ich herum, so, als hätte die Entfernung einer isolierenden Schutzschicht mich jäh unter Strom gesetzt. War das als kleine Aufmunterung gedacht? Wenn ja, dann war es die falsche Methode.