Was für ein Tag! Krach mit David, Streß bei der Arbeit, ein überaus übelgelaunter Chef, und heute Abend steht mir auch noch ein hochnotpeinliches Verhör bevor. Zu dem ich beinahe zu spät komme, weil irgend etwas noch ganz dringend erledigt werden muß, bevor ich weg kann. Aber dann schaffe ich es doch gerade so, eine Minute vor acht.
Der ganze SM-Stammtisch ist schon versammelt. Ob die sonst auch so zahlreich und pünktlich sind, oder nur dann, wenn sie sich auf eine solche Szene freuen können, wie sie diesmal bevorsteht? Alexander, den ich hier natürlich mit Sir Elias ansprechen muß, hat den Platz links neben sich für mich freigehalten. Wofür ich ihm ausgesprochen dankbar bin; seine Nähe wird es mir leichter machen. Bernd quittiert diese Bevorzugung vom anderen Ende des Tisches aus mit einem bösen Blick. Ach, leck mich doch, denke ich genervt. Ich finde es ganz richtig, daß Alexander mir diese Unterstützung zuteil werden läßt. Schließlich spielt Bernd bei unseren beruflichen Zusammentreffen seine positionsmäßige Überlegenheit auch hemmungslos aus. Gut, ich gebe zu, diese Meinung ist etwas einseitig von meinen Interessen geprägt; aber wirklich nur etwas!
Kaum habe ich mich auf den Stuhl fallen lassen, eröffnet Alexander die Sitzung. Tagesordnungspunkt 1: Der Konflikt zwischen Bernd und mir. Als derjenige, der Beschwerde führt, kommt Bernd als erstes zu Wort.
Ich wußte vorher, was er sagen würde und schaffe es deshalb, bei seinem Vortrag absolut ruhig zu bleiben. (Absolut – naja, einigermaßen …) Also, während Bernd sich mir immer nur auf die liebenswürdigste Weise genähert hat, habe ich auf seine höflichen Vorstöße ganz brutal, unangebracht und grundlos mit einer Erpressung reagiert und ihm gedroht, seine bizarren Neigungen in seinem beruflichen Umfeld bekanntzumachen. Das ist in der Kurzfassung in etwa das, was er eine Viertelstunde lang ausschweifendst erläutert.
Einige empörte Ausrufe weiterer männlicher Mitglieder der Runde werden laut, und man mustert mich sehr unwillig.
Als Bernd zum Ende gekommen ist, muß nun eigentlich mir das Wort erteilt werden. Alexander räuspert sich „Ich danke dir, Bernd. Es war deutlich zu erkennen, daß dein Bericht hier am Tisch eine ziemliche Empörung ausgelöst hat. Das verstehe ich. So, wie du die Sache geschildert hast, kann es nur diese Reaktion geben. Unser Ziel ist es jedoch, herauszufinden, was tatsächlich passiert ist; und erst danach ein Urteil abzugeben.“
Schon hängen sämtliche Damen an seinen Lippen. Und die Herren lassen sich immerhin dazu herab, ihn wenigstens anzuhören. Schon öffne ich den Mund, um nun meine Seite der Medaille zu zeigen, als Alexander fortfährt: „In diesem Zusammenhang habe ich ein paar Fragen an dich, Bernd. Ist es richtig, daß du Antje wiederholt zuhause und bei der Arbeit angerufen hast, mehrfach am Tag, zum Teil auch spät abends und morgens vor sieben Uhr?“
Er plant offensichtlich, meine Verteidigung selbst zu übernehmen. Was ich zwar großartig von ihm finde; trotzdem fühle ich mich dabei nicht sehr wohl. Das kann ihm den Vorwurf einbringen, mich ungerechterweise zu begünstigen, und damit jede Menge Ärger.
Bernd schweigt sich aus. „Ist das richtig?“ wiederholt Alexander. „Ja,“ knirscht Bernd. Daß er es nicht offen abstreitet, zeigt die erste positive Charaktereigenschaft, die ich an ihm kennenlerne. „Ist es weiterhin richtig,“ hakt Alexander nach, „daß du Antje bei diesen Telefonaten immer wieder um ein privates Treffen gebeten hast, und das auch noch zu einem Zeitpunkt, zu dem sie dir ganz klar erklärt hat, daß sie nichts mit dir zu tun haben will?“ Statt einer Antwort läuft Bernd rot an und senkt den Kopf. „Auch dies ist also korrekt,“ stellt Alexander fest. „Nun noch eine letzte Frage. Stimmt es, daß du dich bei einem geschäftlichen Meeting, bei dem ihr euch zufällig getroffen habt, Antje und du, auf eine Weise verhalten hast, die weder höflich noch auch nur professionell neutral genannt werden kann?“
„Ich war einfach nur fürchterlich erschrocken, sie zu sehen,“ protestiert jetzt Bernd, noch immer hochrot im Gesicht. „Und ich habe gedacht, sie nutzt das zugunsten ihrer Firma aus, daß sie solche Dinge über mich weiß!“
„Ich konstatiere also,“ faßt Alexander zusammen, „daß du Antje gegenüber zum einen mehr als unfreundlich aufgetreten bist und sie zum zweiten wieder und wieder mit eindeutig unerwünschten Anrufen behelligt hast, die auch nicht aufgehört haben, als sie dich ausdrücklich dazu aufgefordert hat. Was hättest du denn an ihrer Stelle getan, um dem allem ein Ende zu setzen?“
Von Bernd kommt kein Wort.
Die weiblichen Stammtischmitglieder hat Alexander mit seiner engagierten Rede mühelos überzeugt. Logisch – sie werden fast alle genau solche unangenehmen Situation kennen und die hilflose Wut, die sie auslösen. Auch die Herren stehen schon längst nicht mehr so voll hinter Bernd, wie es zu Anfang der Fall war. Wahrscheinlich hätte ich bei einer Abstimmung gute Chancen, nicht vom Stammtisch ausgeschlossen zu werden.
Aber die Sicht der Dinge, die jetzt in den Köpfen der Leute angekommen ist, ist nicht ganz fair. „Etwas muß ich diesem Zusammenhang noch ergänzen,“ sage ich und wundere mich, wie dünn und kraftlos meine Stimme klingt. Das Ganze scheint mich mehr mitzunehmen, als ich gedacht habe. „Ich bin an der Entwicklung der Dinge wirklich nicht unschuldig. Als Bernd mich das erste Mal um ein privates Treffen gebeten hat, hätte ich sofort klipp und klar nein sagen müssen. Statt dessen habe ich ihn vertröstet, weil ich Angst hatte, es gibt noch mehr geschäftlichen Ärger, wenn ich gleich rundweg ablehne. Dadurch habe ich wahrscheinlich Hoffnungen in ihm geweckt, und das war nicht richtig. Es tut mir leid. Es war auch trotz allem nicht richtig, zum Mittel der Erpressung zu greifen, um endlich Ruhe zu haben. Auch das tut mir leid, Bernd, und ich möchte mich dafür ausdrücklich bei dir entschuldigen.“
Bin ich jetzt völlig verrückt geworden? Welche hohlgedrehten Enzyme haben hier um Himmelswillen in meinem Gehirn die Wortweichen so total falsch gestellt? Ich wollte doch auf keinen Fall so sehr zurückstecken!
„Jetzt fehlt eigentlich nur noch die Entschuldigung von deiner Seite, Bernd,“ bemerkt Alexander ruhig, „und dann sind wir mit diesem Tagesordnungspunkt durch. Oder hat jemand Einwände?“
Nein, die hat keiner. Alle sehen nun Bernd an. Der sichtlich mit sich kämpft. Und schließlich zwischen zusammengebissenen Zähnen ein „es tut mir leid“ hervorbringt.
Alexander nickt befriedigt; und auch ohne ihn anzusehen, weiß ich, daß er dabei tief in sich hineingrinst. Genau so hatte er sich wohl die Lösung des Konfliktes vorgestellt. Okay, okay; mir ist kein Zacken aus der Krone gebrochen, und wenn es damit getan ist, soll es mir gerade recht sein.
Aber mit dem kleinen Puppenspieler rechts neben mir, der so geschickt genau die richtigen Fäden gezogen hat, um es so weit zu bringen, werde ich demnächst noch einmal ein ernstes Wörtchen zu reden haben!
Weil es etwas seltsam aussehen würde, wenn ich jetzt aufbreche, bleibe ich den ganzen Abend. Einige andere Dinge sind noch zu klären oder zu besprechen, und dann geht alles in die allgemeine Diskussion über, den Erfahrungsaustausch. Wie Bernd, trage ich nicht einen Satz dazu bei, sondern verhalte mich still. Irgendwann mittendrin treffen sich unsere Blicke. Etwas, das man mit viel gutem Willen als Lächeln bezeichnen kann, bewegt kaum merklich seine Lippen und wird von mir erwidert. Alexander, der es beobachtet hat, drückt fest meinen Arm.
Ich muß zugeben, mir ist auf einmal viel leichter zumute. Jedenfalls solange ich nicht daran denke, wie es mit David weitergehen soll.
Warum, zum Teufel, kann man sich über nichts so richtig freuen, wenn man verliebt ist und es mit dem Gegenstand dieser so vollkommen überflüssigen Schmetterlingsgefühle Probleme gibt?
Aber wenn ich diesen schrecklichen Tag so gut alleine überstanden habe, werde ich mich doch wohl auch noch zum erfolgreichen Schmetterlingsjäger entwickeln können, oder?
David, David – wer ist eigentlich David? Fast gelingt es mir, mich selbst davon zu überzeugen, daß mir dieser Mistkerl völlig egal ist.
Doch dann sagt Alexander zum Abschied ganz harmlos: „Grüß mir David,“ und ich könnte auf der Stelle heulend zusammenbrechen. Was er zum Glück nicht bemerkt. Zum Glück – oder leider, je nachdem; das weiß ich selbst nicht so genau. Jedenfalls: Etwas sensibler könnte er schon sein!
Und nun ernte ich einen Blick von Bernd, in dem die pure Geilheit steckt. Geheilt von mir ist der noch lange nicht. So langsam verstehe ich ihn wirklich nicht mehr.
Aber was will man schon erwarten von diesen seltsamen beschwanzten Geschöpfen? Ich weiß nicht, irgendwie funktionieren die anscheinend ganz anders!
So weit zu einem äußerst erfolgreichen Tag …