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11. September 2008

Seitensprung in der Silvesternacht

Der Wecker klingelte um halb vier. Er holte mich nicht aus dem Schlaf, denn der hatte mich sowieso lediglich in überfallartigen Sprüngen heimgesucht. Karl, mein Mann, mit dem ich mich in der letzten zeit nur noch gestritten hatte, stand mit auf. Wie nett von ihm, dachte ich sarkastisch. Dabei war er es, der mich fort schickte. Ausgerechnet über Neujahr. Auf seine Skihütte in den Bergen, wo wir eigentlich beide gemeinsam das neue Jahr hatten beginnen wollen. Nun, daraus wurde dann nichts; angeblich hatte er zu viel zu arbeiten. Statt dessen hatte er einen seiner Freunde gebeten, mich zu begleiten, Georg Jäger. Dem die Skihütte immerhin gehörte; insofern bot sich das an. Er hatte sie uns allerdings großzügig überlassen wollen. Ich wäre lieber ganz allein gefahren, wenn überhaupt, statt die bedeutendste Nacht eines Jahres ausgerechnet mit einem Fremden zu verbringen. Nicht dass ich Jäger nicht mochte; ganz im Gegenteil.

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Aber der Streit mit Karl überlagerte einfach alles. Karls Begründung war, dass Jäger ebenso wie ich das Ausspannen dringend nötig hatte. Er hatte sich gerade von seiner Frau Isolde getrennt, was nicht nur mit ihr, sondern auch mit seinen beiden fast erwachsenen Söhnen jede Menge Ärger gebracht hatte. Aber was hatte ich damit zu tun? Wieso durfte ich nicht an Silvester mit meinem Mann zusammen sein, statt diese Nacht mit irgendeinem anderen mann verbringen zu müssen? Gerade weil wir uns in der letzten Zeit so viel gestritten hatten, war es umso bitterer nötig, dass wir endlich einmal Zeit für uns hatten. Aber nein – die Arbeit war ja wichtiger, die ging immer vor. Einen Vorstoß machte ich noch. „Soll ich nicht lieber doch da bleiben?“ Er hätte nur einen kleinen Schritt gehen müssen, erkennen lassen, dass er mich brauchte, mich vermissen würde. Doch er sagte lächelnd, beruhigend, überlegen, gelassen: „Nein – ich möchte, dass du fährst.“ Nun gut; dann war das ja nunmehr endgültig geklärt.

Kurz vor vier kam Jäger mich abholen; mit seinem Wagen, den ich bei mir verächtlich immer nur das Angeberauto nannte, einem Aston Martin. Als wir kurz vor vier im Aston Martin saßen, hatten Jäger und ich noch kein Wort miteinander gesprochen. Karl hatte das Reden für uns alle drei übernommen; er schien regelrecht aufgelöst zu sein, voller Vorfreude, mich endlich loszuwerden. Dass Jäger und ich nichts miteinander sprachen, das änderte sich auch nicht auf dem ersten Teil der Strecke. Wir kamen zügig voran, die Autobahnen waren nahezu leer. Auch nachdem es hell geworden war, wurde der Verkehr nicht viel dichter. Irgendwann hielten wir an einer Raststätte für ein Frühstück, das ich fast unberührt ließ, ebenso wie Jäger. Ich konnte es nicht fassen, ich konnte es einfach nicht fassen. Mehrmals war ich kurz davor, ihn zu bitten umzukehren. Das durfte ja alles nicht wahr sein; die erste echte Auseinandersetzung mit Karl, und dann gleich so massiv, dass alles in Frage gestellt war. Oder war es das nicht, er machte mir nur großzügig ein Geschenk, wie einem kleinen Kind, das man mit einem Spielzeug ruhigstellen will, wenn es sich puterrrot im Gesicht in einem Trotzanfall auf den Boden schmeißt und mit den Füßen trampelt? Die Mühlräder drehten sich in mir, zermahlten etwas zu Staub, das ich für unzerstörbar gehalten hatte; unseren Zusammenhalt. Karls und meinen. Wie war das mit dem Marmorstein … Mir war schon klar, das war kein Bruch; es war nur eine vorübergehende Abweichung vom gemeinsamen Weg. Oder war es vielleicht doch mehr, war es das Ende, bedeutete es die Trennung?

Jetzt können wir beide zwei Tage lang unsere Wunden lecken„, war der erste richtige Satz, den ich außer praktischen Belanglosigkeiten von mir gab, und da waren wir längst tief im Süddeutschen. Jäger drückte kurz meine Hand, sagte nichts. Wir schwiegen weiterhin die meiste Zeit, bis zur Grenze, bis zu dem kleinen Ort, an dem er den Wagen in einer Garage unterstellte, sich den Schlüssel für die Hütte und irgendein Vierradantriebsteil holte. Die Leute dort, ersichtlich alte Bekannte von ihm, die Eigentümer der Hütte, hielten uns für ein Liebespaar. Mir war es egal. Sie stellten mir Kaffee und Kuchen hin, während Jäger loszog, unsere Verpflegung zu besorgen. Ich schluckte, ohne etwas zu schmecken. Der letzte Teil der Fahrt war mühsam, und einmal blieben wir sogar beinahe stecken, trotz Schneeketten. Trotzdem kamen wir irgendwann an. Die Hütte war nichts Besonderes; einfach nur ein kleiner Kasten aus Holz. In meiner jetzigen Stimmung konnte sie mich nicht beeindrucken; ebenso wenig wie die wirklich atemberaubende Schönheit der verschneiten Bergwelt um uns herum. Jäger trug unser Gepäck hinein, machte Feuer. Eine Zentralheizung gab es hier natürlich nicht, was mir verwöhnter Stadtpflanze schon böse aufstieß. Ich war wie gelähmt, zu nichts fähig, saß zitternd und frierend trotz dicker Steppjacke vor dem Kamin. Er begutachtete die zwei winzigen Schlafkammern, bezog die Betten, packte Kulturbeutel und Nachtzeug aus, verstaute die Lebensmittel. Danach zog er mich hoch. „So, und jetzt machen wir einen kleinen Spaziergang, bevor es ganz dunkel ist.“ Selbst zum Protestieren war ich zu schlaff, ließ mich einfach abschleppen nach draußen.

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Wie mit Nadeln stach die kalte Luft, und ringsherum glitzerte es weiß im letzten Tageslicht. Wir waren nicht sehr hoch oben in den Bergen, der Ort unten war noch gut zu sehen, und der Berg stieg nur ganz gemächlich an, von der Senke aus, in der die Hütte stand. Alles, was einen echten Bergsteiger gereizt hätte, war noch endlos weit weg. Trotzdem kam ich mir so vor, als seien wir auf einem fremden, weit entfernten Planeten gestrandet, ohne jede Verbindung zu unserer Heimat. Ganz falsch war das nicht – das Telefon in der Hütte war ausgefallen, wie man uns unten gesagt hatte, und unsere Mobiltelefone fanden kein Netz. Ich hatte keine Möglichkeit, mit Karl in Kontakt zu treten. Aber vielleicht war das auch ganz gut so – bestimmt hätten wir uns doch wieder nur gestritten. Wir umkreisten die Hütte, die ich mich weigerte, aus den Augen zu verlieren, aus Angst, wir könnten uns verirren, obwohl Jäger mir versicherte, er kenne sich hier gut aus, stapften durch teilweise recht hohen Schnee, der uns die Hosen durchnässte und oben in die Winterstiefel eindrang, hinterließen durchweg parallele Spuren, die das Kontrastspiel zwischen schimmerndem Weiß und zunehmenden Schatten bereicherten. Als Jäger ein wenig zurückblieb, dachte ich mir nichts dabei, bis mich der erste Schneeball zwischen die Schulterblätter traf. Wie elektrisiert fuhr ich herum, so, als hätte die Entfernung einer isolierenden Schutzschicht mich jäh unter Strom gesetzt. War das als kleine Aufmunterung gedacht? Wenn ja, dann war es die falsche Methode.

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04. September 2008

Betrogene Betrüger

Ich gebe zu, die Engländer haben recht, wenn sie sagen: „Two wrongs don’t make a right.“ Also zweimal Unrecht ergibt noch lange kein Recht, anders als minus mal minus immer plus ergibt. Ethik gehorcht nun einmal nicht mathematischen Regeln. Trotzdem, wir Menschen sind nun einmal so gestrickt, dass wir uns für das erlittene Unrecht gerne rächen. Und auch wenn das die Welt nicht wieder so macht wie vorher, so kann es doch erstens das eigene Ego befriedigen, und zweitens wenigstens manchmal zu einem Ergebnis führen, das eigentlich noch viel besser ist als der Status Quo vor dem ersten Unrecht. Für diejenigen, denen das jetzt alles viel zu kompliziert klingt, erzähle ich einfach die Geschichte, um die es mir geht. Dann wird das schon deutlich, was ich meine. In der Geschichte geht es um Sex und Seitensprung; besser gesagt, um zweimal Fremdgehen. Oder viermal, wenn man es ganz genau nimmt. Es ist also eine Sexgeschichte. Sie beginnt mit Sex für meinen Mann, der mich vor jetzt ziemlich genau sechs Monaten das erste Mal betrogen hat. Für sein Fremdgehen habe ich mich mit einem eigenen Seitensprung gerächt, und der hat mir gleich in doppelter Hinsicht mein Glück gebracht. Aber widmen wir uns erst einmal der Vorgeschichte zu diesem doppelten Seitensprung.

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Wir vier, mein Mann Torben, ich, Angelika und ihr Mann Johannes, wir waren schon immer Freunde, seit wir uns im ersten Semester Jura an der Universität Mannheim getroffen haben. Vorher kannten wir uns überhaupt nicht, aber Studenten und Studentinnen schließen ja rasch feste Freundschaften. Wenn man jung ist, ist das so; später, wenn man älter wird, geht es nicht mehr ganz schnell mit den neuen Freundschaften. Deshalb sind die alten Freundschaften ja auch so wertvoll. Wir vier frisch gebackenen Studenten bildeten noch im ersten Semester eine feste Lerngruppe und segelten gemeinsam zwar nicht hervorragend, aber doch recht gut durch Klausuren, Zwischenprüfung, erstes und zweites Staatsexamen. In Sachen Lernen und Freundschaft waren wir eine Vierergruppe, in Sachen Liebe jedoch sehr schnell zwei Paare. Schon im zweiten Semester oder vielmehr in den Semesterferien hatten sich Angelika und Johannes sowie Torben und ich zusammengefunden, und nie hatte einer von uns vieren einen Zweifel daran gehabt, dass wir mit dieser Konstellation genau die richtigen Paare gebildet hatten. Zwischen erstem und zweitem Staatsexamen feierten wir eine Doppelhochzeit. Danach, also nach der Referendarzeit und dem zweiten Staatsexamen, trennten sich unsere Wege insofern, als mein Mann sich mit einer eigenen Anwaltskanzlei selbstständig machte und ich bei ihm mit einstieg, während Johannes die Kanzlei seines Vaters übernahm und Angelika als Hausjuristin zu einer Versicherung ging. Noch immer trafen wir uns aber oft zu viert und unternahmen viel zusammen, abends und an den Wochenenden. Wir machten nicht den Fehler, den viele Ehepaare machen, dass sie eigentlich täglich fast nur noch den Ehepartner sehen und mit ihm gemeinsam Aktivitäten ausüben.

Die Jahre vergingen, wir feierten unsere sechsten Hochzeitstage – ein Jahr vor dem verflixten siebten Jahr. Kinder gab es bei uns keine; sowohl Angelika als auch ich wollten damit noch etwas warten. Wir waren ja schließlich auch erst Anfang 30 und wollten zuerst unsere Karriere in die richtigen Bahnen lenken. Dann kam der Frühling in diesem Jahr. Johannes und Angelika hatten eine Reise in den Süden gebucht, doch im letzten Moment wurde Johannes‘ Vater krank und er konnte nicht mitfliegen, bestand aber darauf, dass Angelika sich trotzdem auf den Weg machte, weil sie Erholung dringend nötig hatte. Ebenso wie Torben, den der Stress des Aufbaus einer Kanzlei arg mitgenommen hatte und der im Frühjahr mehr als urlaubsreif war. Johannes schlug dann vor, dass wir doch beide Angelika begleiten sollten. Für eine dritte Person noch schnell nachzubuchen, hätte sich bestimmt machen lassen. Allerdings meinte Torben, wir könnten unsere Kanzlei nicht einfach für drei Wochen dicht machen, und da hatte er natürlich absolut recht. Also blieb ich zu Hause, und Torben begleitete Angelika. Es war eine wahnsinnig hektische Zeit, denn auf einmal hatte ich die Arbeit von zwei Anwälten zu erledigen. Auch Johannes war voll im Stress, mit der Kanzlei und den Besuchen bei seinem Vater, dem es aber zum Glück wenigstens langsam besser ging. Wir sahen uns nicht ein einziges Mal in diesen drei Wochen, telefonierten nur regelmäßig miteinander und trafen uns erst am Flughafen wieder, um unsere Ehepartner vom Flugzeug abzuholen. Die sich ersichtlich gut genug amüsiert hatten, sich nur sporadisch bei uns beiden Daheimgebliebenen zu melden, was mich mächtig ärgerte und Johannes ebenfalls nicht kalt gelassen hatte.

Ich war die erste, die bemerkte, dass irgendetwas anders war zwischen den beiden Urlaubern, zwischen uns allen vieren, als es vor dem Abflug gewesen war. Die Begrüßung war einfach zu gezwungen, zu gekünstelt, und in der Umarmung, die Torben mir schenkte, spürte ich ebenso wenig Wärme wie in der, die Johannes abbekam. Noch war dies allerdings nicht mehr als ein nebulöses Gefühl, und ich beschloss, weder Johannes damit zu beunruhigen, dass ich ihm davon erzählte, noch die Wiedersehensfreude zu stören, indem ich Torben oder Angelika darauf ansprach. Als allerdings abends Torben und ich miteinander im Bett lagen und ich mich an ihn kuschelte, in der Hoffnung, er sei zu etwas Sex zu überreden, nachdem ich ja nun drei Wochen ohne hatte auskommen müssen, da wurde es klar, es war wirklich etwas los. Er ließ sich zwar darauf ein, er vögelte mich; aber es war nicht mehr als das, als Vögeln. Es war mechanischer Sex, es war keine Liebe darin, und es war auch ebenso schnell wieder vorbei, wie es angefangen hatte. Nun hatte es mich an Torben schon immer gestört, dass der Sex mit ihm immer viel zu schnell wieder vorbei war, weil er nicht viel von Vorspiel und Nachspiel hielt, aber so kurz war ich es nun doch nicht gewohnt. In den nächsten Tagen beobachtete ich ihn aufmerksam und fand immer mehr Anzeichen dafür, dass er sich verändert hatte. Es musste im Urlaub etwas geschehen sein, das ihn mir entfremdete – und das konnte ja eigentlich nur ein Fremdgehen gewesen sein. Ein Urlaubsflirt – oder mehr.

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Auf einmal ertappte ich Torben auch sehr häufig beim Telefonieren mit seinem Handy; wobei er das Telefongespräch jedes Mal hastig beendete, wenn ich ins Zimmer kam. Die Vermutung lag nahe, er hatte seine Geliebte aus dem Urlaub angerufen. Ob die beiden wohl Telefonsex miteinander machten, überlegte ich mir? Noch viel drängender war aber die Frage, wer denn die betreffende Unbekannte mit dem Seitensprung war. Einige Tage später hielt ich die Ungewissheit nicht mehr aus. Ich griff mir sein Handy, als Torben duschen war, und ging die Telefonliste ebenso wie die Anrufliste durch. Die Nummer, die in beiden Listen ständig auftauchte, war mir auf den ersten Blick nicht geläufig; in Zeiten des elektronischen Telefonbuchs merkt man sich ja keine Telefonnummern mehr. Vor allem nicht, wenn es eine Handynummer ist. Es gab nur eine Möglichkeit herauszufinden, welche Frau am anderen Ende steckte. Damit sie nicht die vertraute Nummer sah, ihn darauf ansprach und mein Hinterherschnüffeln am Ende aufflog, schrieb ich mir die Nummer auf, nahm mein eigenes Handy, unterdrückte die Nummern-Kennung und rief an. Das Wasser der Dusche rauschte zum Glück noch immer. Ein atemloses „Ja?“ war das erste, was ich zu hören bekam. Es traf mich bis ins Mark, denn diese weibliche Stimme kannte ich nur zu gut. Es hätte der ungeduldigen Nachfrage, wer denn da bitte dran sei, als ich natürlich kein Wort sagte, nicht bedurft, um mir zu verraten, es war Angelika.

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