Manchmal kann es schon ein echtes Problem sein, wenn man nette Eltern hat. Meine Eltern zum Beispiel können nie nein sagen – außer zu ihrer Tochter natürlich, zu mir. Aber jeder andere kann sie um jeden Gefallen der Welt bitten, und sie erklären sich sofort einverstanden. Natürlich bereuen sie das meistens, wenn es dann an die Realisierung dieses Gefallens geht, aber das muss ich ihnen lassen, einen Rückzieher machen sie nicht. Wenn sie etwas versprochen haben, dann ziehen sie das auch durch. Als eine Freundin meiner Mutter sie gebeten hat, dass ihr Sohn bei uns in den Sommerferien Gast sein darf, wusste ich genau, was passiert. Und so kam es auch. Sofort erklärte meine Mutter ihr ganz eifrig, ja, das sei überhaupt kein Problem, Axel könne gerne die ganzen Ferien bei uns bleiben. Ich saß da, hörte zu und knirschte innerlich mit den Zähnen. Laut zu widersprechen wagte ich natürlich nicht, aber ich hatte schon zu diesem Zeitpunkt einen echten Horror vor Axels Besuch.
Ich kannte Axel; Muttis Freundin hatte ihn zumindest früher öfter mal dabei gehabt, wenn sie uns besuchen kam. In der letzten Zeit war ich ihm zwar nicht mehr begegnet, doch ich war mir sicher, großartig verändert hatte er sich nicht. Bestimmt war er nicht viel netter geworden; er war früher immer ein wahnsinnig arroganter und rüder Bengel gewesen. Obwohl ich ein Jahr älter bin als er – zu dem Zeitpunkt, als meine Mutter Axel zu uns einlud, war ich bereits 19, und er war gerade erst 18 geworden -, tat er immer so, als hätte ich von nichts eine Ahnung und behandelte mich wie eine kleine Schwester. Wie eine kleine, lästige Schwester. Ich war zwar der Meinung, mit 18 kann ein Junge durchaus auch mal alleine zuhause bleiben, wenn seine Eltern einen längeren Urlaub machen – aber wer fragt schon einen Teenager nach seiner Meinung … Es war nichts dagegen zu machen; Axel würde fast die gesamten Sommerferien bei uns verbringen. Schon Wochen vorher herrschte bei uns Aufstand; alles wurde geputzt, das Gästezimmer wurde bereitet, und meine Mutter fragte mich – ausgerechnet mich! -, wie sie Axel denn den Aufenthalt bei uns so angenehm wie möglich machen könnte. Dabei haben Teen Girls und Teen Boys in dem Alter doch völlig unterschiedliche Interessen! Auf jeden Fall nahm meine Mutter mir auch das Versprechen ab, mich ein bisschen um Axel zu kümmern. Obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie ich das machen sollte – und vor allem auch nicht die geringste Lust dazu.
Die Sommerferien kamen – in diesem Jahr freute ich mich überhaupt nicht darauf -, und mit ihnen kam Axel. Seine Mutter lieferte ihn bei uns ab. Sie tat so, als ob es ein Abschied für immer wäre, als sie wieder ging, betüttelte ihn, gab ihm mehrere Dutzend Ermahnungen, als ob er noch ein kleines Kind wäre und kein erwachsener Teenager, und zog am Ende noch seinen Kopf zu sich herunter – er war damals schon mehr als einen Kopf größer als sie -, um ihm einen dicken Schmatz direkt auf den Mund zu geben. Wider Willen hatte ich Mitleid mit ihm; das Verhalten seiner Mutter war echt oberpeinlich! Außerdem, wenn es für sie so schlimm war, Axel bei uns zu lassen – warum blieb sie dann nicht einfach mit dem Arsch zuhause? Oder nahm Axel mit auf die große Tour, die sie mit ihrem Mann, Axels Stiefvater, machen wollte? Es war zwar merkwürdig, denn eigentlich war ich sauer auf sie und auch auf Axel, in den Sommerferien nicht ungestört sein zu können; aber bei dieser Abschiedsszene ging es mir das erste Mal auf, dass Axel womöglich auch nicht sonderlich glücklich über dieses Arrangement war.
Als seine Mutter losfuhr, stand er noch eine Weile in der Haustür; sein Gesicht war ziemlich mürrisch, aber er wirkte irgendwie auch traurig. Ich beschloss, auf ihn zuzugehen. Sanft legte ich ihm kurz die Hand auf die Schulter und sagte dann: „Komm, ich zeig dir dein Zimmer.“ Meine Mutter nickte zufrieden im Hintergrund und verschwand. Sie überließ die „jungen Leute“, die Teenager, sich selbst. Axel folgte mir ins Gästezimmer, ich zeigte ihm alles und half ihm sogar dabei, seine Sachen auszupacken. Er kloppte gar keine arroganten Sprüche, benahm sich geradezu richtig höflich. Nachdem wir ausgepackt hatten, setzte er sich aufs Bett. Viel glücklicher als vorhin sah er noch immer nicht aus. Ich betrachtete ihn mir genauer. Er hatte sich zumindest äußerlich ganz schön verändert, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Seine früher immer ordentlich kurz geschnittenen Haare waren viel zu lang; sie fielen ihm ins Gesicht und stießen am Kragen seines T-Shirts an. Aber es stand ihm gut, diese zu langen Haare; hätte noch die alte Arroganz in seinen Augen geblitzt, hätte er richtig verwegen und verführerisch ausgesehen. Fast bedauerte ich es, dass er wohl auch charakterlich einiges dazugelernt hatte und netter geworden war. Zumindest sah er richtig gut aus; endlich wie ein junger Mann und nicht mehr wie ein rüpelhafter Boy.
Jäh fühlte ich mich befangen in seiner Gegenwart; ja, aus dem unartigen Jungen war ein wirklich gutaussehender junger Mann geworden. Natürlich hatte ich kein Interesse an ihm; aber in der Nähe von hübschen Jungs werden alle Teen Girls befangen. Ich wollte mich schnell aus dem Zimmer stehlen, doch er hielt mich zurück. „Bleib doch noch ein bisschen„, bat er mich, und als ich zögerte, blitzte auf einmal ein bisschen was von dem alten überheblichen Feuer in seinen blauen Augen auf, und er meinte keck: „Du bist ja richtig hübsch geworden! So etwas lasse ich doch nicht gleich wieder weg!“ Nun hätte ich eigentlich sauer sein müssen, dass er doch noch immer so arrogant war wie eh und je – aber es war wirklich komisch, ich spürte lediglich den Wunsch zu lachen. Und irgendwie fühlte ich mich auch geschmeichelt durch sein Kompliment. Ich blieb in der Tür stehen, doch er streckte die Hand nach mir aus. „Komm, setz dich zu mir aufs Bett„, forderte er mich auf.