Love at first sight, Liebe auf den ersten Blick? Das gibt es nicht, hätte ich noch vor diesem Abend voller Überzeugung behauptet und wäre mir mit meinen 22 Jahren dabei auch noch sehr klug und erfahren vorgekommen. Tja, Hochmut kommt manchmal vor dem Fall … Denn genau an diesem Abend erwischte es mich. Und zwar so gründlich, dass dadurch mein ganzes Leben durcheinander gewirbelt wurde.
Nicht dass ich vorher nun ein Kind von Traurigkeit gewesen wäre, wie man so schön sagt; ich war Studentin und habe schon mitgenommen, was sich mir an Sex geboten hat. Und bei einigen Sexabenteuern hatte ich auch nicht darauf gewartet, dass man sie mir anbot, sondern ich hatte sie mir geholt. Allerdings waren es ausnahmslos alles Männer gewesen, mit denen ich mich vergnügt hatte. Ich und eine Lesbe? Den Gedanken hätte ich weit von mir gewiesen; bis ich dann entdeckte, dass es doch der Lesbensex ist, der mich wirklich erfüllt. Der vom Sex direkt in Liebe einmündet. Ein paar der Beziehungen hätten schon auch ernsthafter werden können; es waren nicht alles nur One Night Stands. Aber irgendwie ist doch nie etwas daraus geworden. Deshalb hatte ich so meine Schwierigkeiten, überhaupt an Liebe zu glauben; geschweige denn an Liebe auf den ersten Blick. Was ich sehr wohl aus eigener Erfahrung wusste, dass es das gibt, das ist sexuelle Anziehung auf den ersten Blick. Das kennt ihr sicher auch; ihr seht einen bestimmten Menschen zum ersten Mal – und schon liegt da dieses zauberhafte Prickeln in der Luft, euer Pulsschlag beschleunigt sich, eure Augen glänzen, ihr seid wach und charmant, ihr sprüht vor Lebensfreude, könnt den Blick nicht von „ihm“ wenden. Wenn man Glück hat, entwickelt sich aus dieser unglaublichen, körperlichen Attraktion ein Flirt oder sogar ein ONS. Ob Liebe daraus wird, das muss man erst mal sehen. Ausgeschlossen ist es sicher nicht. Bloß sollte man eben diese beiden Dinge, das heiße Prickeln und Liebe, nicht miteinander verwechseln. Das habe ich an diesem Abend gelernt, denn da erlebte ich beides. Gleichzeitig. Bei einer einzigen Person. Oder nein, eher einem Persönchen. Einer Lesbe.
Einer meiner Freunde, Jürgen – wir hatten einmal, im Semester zuvor, eine heiße Nacht miteinander verbracht, dann allerdings beschlossen, dass wir bessere Freunde als Liebende waren – feierte eine Party. Nun ist es wirklich nicht so, dass Studentinnen ständig auf Partys herumhängen, aber ab und zu wird schon einmal gefeiert. Das ist eine willkommene Abwechslung von Vorlesungen und Klausuren und der ganzen Lernerei. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass wir alle eben noch sehr jung sind, vielleicht liegt es auch daran, dass wir als Studenten und Studentinnen keineswegs das Lotterleben führen, wie manche das denken, sondern einen ziemlich anstrengende Tage haben und meistens auch am Wochenende arbeiten müssen – jedenfalls bedeutet so eine Party eigentlich immer eine total ausgelassene Stimmung. Das lässt sich fast mit dem Prickeln vor einem Flirt oder ONS vergleichen, nur dass es sich nicht auf einen bestimmten Menschen bezieht, sondern auf das Leben ganz allgemein. Wobei sich ein Sexabenteuer daraus ohne weiteres ergeben kann, denn in dieser Stimmung ist man für alles aufgeschlossen. Ich hatte es mir jetzt auch zwar nicht so fest vorgenommen, wie man eine bestimmte Aufgabe plant, aber ich hatte es schon vor, vielleicht auf der Party jemanden aufzureißen, mit dem ich währenddessen ein bisschen herummachen konnte und der nachher mit zu mir ins Bett kommen würde. Ob in seiner oder meiner Studentenbude war mir dabei ziemlich egal. Jürgen studiert Kunstgeschichte, als ein Mann unter vielen Frauen, aber er kennt nicht nur seine Mit-Studentinnen, sondern unzählige Leute von allen Fakultäten, und bei ihm kann man sich immer darauf verlassen, dass er interessante Leute eingeladen hat.
Auf den ersten Blick allerdings sah ich, als ich eintraf, niemanden in seiner Wohnung – Jürgen hat von seinen Eltern ein Haus geerbt, wo er zwei Stockwerke vermietet hat und im Erdgeschoss selbst wohnt, in einer riesigen Wohnung, die für Partys geradezu ideal ist -, den ich nicht schon gekannt hätte. Das war natürlich etwas enttäuschend, denn manchmal muss es für ein Sexabenteuer einfach jemand Neues sein. Nicht dass ich die Studenten auf der Party nun schon alle durch gehabt hätte; höchstens zwei oder drei kannte ich davon auch intim, also sexuell – aber mit den anderen war ich deshalb nicht im Bett gelandet, weil ich sie dafür einfach nicht reizvoll genug fand. Insofern war das natürlich erst einmal enttäuschend. Außerdem entwickelte sich dann auch noch rasch eine dieser leidigen, endlosen Diskussionen über Studiengebühren. Mit Worten sind da viele immer ganz groß – aber aktiven Widerstand leistet kaum jemand. Kein Wunder – niemand will seinen Studienplatz riskieren, und deshalb zahlen wir alle brav unsere Studiengebühren. Deshalb halte ich aber diese Diskussionen für völlig überflüssig, und außerdem wollte ich an diesem Abend nicht quatschen, sondern Spaß haben. Ich schlenderte von einem Zimmer ins nächste, aber nirgendwo fand etwas statt, was meine Aufmerksamkeit wirklich geweckt hätte. Ich war schon kurz davor, die Party wieder zu verlassen. Es gibt nichts, was so öde ist wie eine Party, wo niemand richtig Feuer fängt. Da gibt es dann ganz andere Dinge, die man als Studentin an einem Samstagabend unternehmen kann, die mehr Spaß machen. Unschlüssig stand ich gerade im Flur bei meinem Mantel, schwankte zwischen dem Wunsch, woanders zu sein, und der Hoffnung, dass sich die Party vielleicht doch noch zu etwas Anständigem entwickeln würde, da klingelte es an der Haustür. Nachdem sich sonst niemand anschickte zu öffnen, nicht einmal Gastgeber Jürgen, übernahm ich das, als es kurz darauf wieder schellte, und zwar schon erheblich ungeduldiger.
Vor der Tür stand eine junge Frau, etwas kleiner als ich, in etwa in meinem Alter oder ein, zwei Jahre jünger, sehr schlank, fast jungenhaft mit schmalen Hüften und kleinen Brüsten. Das Auffälligste an ihr waren ihre Haare. Sie waren genau das, was man karottenrot nennt, und ersichtlich nicht gefärbt, sondern Natur. In einem dichten Vorhang fielen ihr die Haare übers Gesicht und bis weit über ihren Bauchnabel, den sie über ihrer Jeans offen und nackt zeigte. Ich stand da wie vom Donner gerührt. Wahrscheinlich habe ich sie ganz unverschämt angestarrt, diese rothaarige Hexe, aber sie war zu höflich, es mich spüren zu lassen. „Ist die Party schon lange dran?„, fragte sie atemlos. „Sorry, ich musste erst noch ein paar Fußnoten für meine Semesterarbeit abchecken, weil die Uni Bibliothek morgen ja geschlossen hat. Und am Montag muss ich abgeben, und ich bin so total unsicher, ob ich auch alles richtig gemacht habe. Am liebsten würde ich jetzt einen ganz anderen Ansatz für das Thema wählen, aber das kriege ich über das Wochenende einfach nicht mehr hin. Na ja, vielleicht lasse ich mir auch eine Verlängerung geben und probiere es einfach doch noch einmal mit einer neuen Gliederung. Findest du nicht auch, diese blöden Semesterarbeiten sind eine echte Katastrophe?“ Sie redete ohne Punkt und Komma. Heute stört mich das manchmal, aber damals fand ich es klasse, denn es überdeckte meine eigene Unsicherheit und Faszination mit diesem zierlichen, rothaarigen, ungeheuer lebendigen Persönchen. Endlich registrierte ich, sie hatte mir eine Frage gestellt. Neugierig sahen ihre katzengrünen Augen mich an. Was hatte sie mich noch mal gefragt? Ich hatte keine Ahnung. Mir war kalt und heiß gleichzeitig. „Ich glaube, wir sollten uns erst mal vorstellen„, erwiderte ich lahm, weil mir nichts anderes einfiel und ich ihr auf keinen Fall zeigen wollte, ich hatte ihrem Wortschwall nicht richtig zugehört.