04. November 2008
Sie hatten sich noch nie gesehen. Und so waren sie füreinander völlig Fremde; obwohl sie beide Dinge voneinander wussten, die nicht einmal engen Freunden bekannt waren. Schon drei Tage bevor Andrew eintraf, konnte Hanna kaum essen oder schlafen. Mehr als eine Stunde zu früh war sie am Flughafen. Obwohl sie erheblich mehr Zeit als geplant damit verbracht hatte zu duschen, sich zu schminken, sich anzuziehen. Im letzten Moment erschien ihr das enge, kurze, schwarze Kleid, das sie eine Woche zuvor ausgesucht hatte, als viel zu offensichtlich, und so hatte sie stattdessen Jeans und ein T-Shirt gewählt. Nervös rutschte sie auf dem orangefarbenen Plastikstuhl im Wartebereich hin und her. Sie versuchte, in dem Buch zu lesen, das sie mitgebracht hatte. Ohne ein Wort zu verstehen, wanderten ihre Augen über die Buchstaben.
Während der letzten zehn Minuten vor Ankunft der Maschine war sie so aufgeregt, dass sie aufstehen und umhergehen musste. Endlich wurde die Landung bekannt gegeben. Kurz darauf tauchten die ersten Passagiere auf. Überall um sie herum fiel man sich in die Arme, begrüßte sich aufgeregt. Dann sah sie ein Gesicht; vertraut irgendwie, denn natürlich hatte sie Bilder von ihm gesehen, aber auch fremd. Eine Fantasie, lebendig geworden, und für einen Moment spürte sie Panik in sich aufsteigen, und den Wunsch davonzulaufen. Aber dann erkannte er sie und lächelte, und Freude stieg in ihr auf wie eine plötzlich übersprudelnde warme Flüssigkeit. Sie musste sich zurückhalten, nicht zu ihm zu laufen, und am Ende rannte sie doch.
Die ersten Minuten waren ein wenig gezwungen, angestrengt. Noch am Tag zuvor hatten sie miteinander telefoniert, sich auch über intime Dinge unterhalten. Doch seine Stimme war so anders, real statt am Telefon, und ihn so unversehens mit allen Sinnen wahrnehmen zu können, überwältigte sie. Sie plauderten ein wenig über seinen Flug, das Wetter, und andere harmlosen Dinge, während sie sich zum Gepäck-Rondell begaben. Auf einmal sagte er, und er beobachtete sie genau dabei: „Was ich am meisten brauche, hatte ich ohnehin die ganze Zeit bei mir im Handgepäck.“ Sie errötete. Wie konnte er so selbstverständlich über das sprechen, was sie beide zusammengebracht hatte? Für sie war es in diesem Augenblick weiter weg noch als die Stadt, aus der er gekommen war. „Keine Angst„, ergänzte er, mit einem kleinen Funkeln in den Augen, „ich werde nichts tun, womit du nicht einverstanden bist. Aber ich dachte, es sollte von Anfang an Klarheit darüber herrschen, warum ich hier bin. Du weißt, leider ist meine Zeit mit dir begrenzt.“ Wie ein kleines Kind, das getadelt worden war, senkte sie den Blick und machte sich ganz klein. Es gab aber auch einen kleinen Funken rebellischen Widerstandes in ihr. Es bestand keine Notwendigkeit, sie daran zu erinnern, dass er nicht einmal 24 Stunden bleiben konnte. Das war ohnehin schon schlimm genug, auch ohne dass er es ihr nochmals extra unter die Nase rieb. Und was glaubte er eigentlich, was sie war? Nur eine menschliche Puppe, mit der er sich amüsieren konnte, wenn er in seinem vollen Terminkalender endlich einmal eine Lücke hatte? Unbewusst richtete sie sich auf. Wenn er etwas von ihr haben wollte, dann musste er sie umwerben. Ein paar brutal offene Worte waren nicht genug, damit sie sich ihm öffnete.
Er hatte ihre Reaktionen genau beobachtet, und ein Lächeln spielte um seine Lippen. Sie war genauso, wie es sich vorgestellt hatte. Es war gut, dass er so sehr daran gewöhnt war, seine Gefühle zu verbergen. Sonst hätte sie es sofort gemerkt, dass es ihm eben so viel ausmachte wie ihr, wie kurz er nur bleiben konnte. Er hätte sehr gerne mehr Zeit gehabt, um sie wirklich kennenlernen zu können. Aber es hatte für das erste Treffen keine andere Möglichkeit gegeben. Es würde Wochen, vielleicht sogar Monate dauern, bevor er mehr als einen Tag für sich selbst hatte; nicht gefordert aktuelles Projekt beendet war. Und solange hätte er nie warten können. Es war ohnehin schon drei Monate her, seit sich ihre Wege im Internet gekreuzt hatten. Es war ein ganz dummer Zufall gewesen; oder genau gesagt, ein Unfall. Eine Tageskarte ein Freund von ihm eine Mail an ihn weitergeleitet. Er war davon ausgegangen, es war das gesprochene Mail über einen Bondage Workshop in seiner Stadt. Aber der Freund hatte ganz offensichtlich einen Fehler gemacht und eine private Mail weitergeleitet. Er hatte den Fehler sofort bemerkt, aber trotzdem hatte er die Mail gelesen; er hatte nicht anders gekonnt. Diese Frau, von der die Mail stammte, hatte eine so charmante Art, die Dinge zu formulieren, dass er gegen seinen Willen gefesselt war. Obwohl doch beim Fesseln eigentlich er immer der Aktive war … auch interessierte ihn der Inhalt ihrer Mail. Diese fremde Frau wollte von seinem Freund wissen, mit wem sie sich privat über Bondage unterhalten könnte. Sie schrieb, sie fühle sich nicht in der Lage, einen Bondage Workshop zu besuchen oder sich einer der existierenden SM Stammtische oder Fetischgruppen anzuschließen, in denen auch Fesselspiele das Thema waren. Merkwürdigerweise schien sie ihm von dieser Mail her gar nicht schüchtern zu sein. Aber vielleicht gab es andere Gründe für sie, warum sie keine öffentlichen Diskussionen wollte.
Sehr bald aber löschte er die Mail und versuchte, den Inhalt zu vergessen, innerlich voller Bedauern darüber, dass eher ihr nicht helfen konnte. Während der nächsten Tage ertappte er sich jedoch öfter dabei, an diese unbekannte Frau denken zu müssen. Eine Woche später erhielt er eine weitere Mail von ihr – und diesmal war es kein Fehler. Sie entschuldigte sich mehrmals und erklärte, dass sein Freund ihr seine Mailadresse gegeben hatte. Er unterdrückte den Anflug an Ärger über seinen Freund, sah dies als einen Wink des Schicksals an und schrieb ihr sofort zurück. Entgegen seiner Erwartungen war diese Korrespondenzen keine lästige Pflicht für ihn gewesen. Sie waren miteinander sofort warm geworden, hatten noch weit mehr an gemeinsamen Interessen gefunden als ihre Faszination für Bondage, und schon bald hatte es ein erstes Telefonat gegeben. Und nun ging er neben ihr. Wenn er ehrlich mit sich selbst war, dann hätte er am liebsten die Zeit angehalten, die doch unerbittlich weiterlaufen würde und, so hatten sie beides abgesprochen, ein ganz klares Ziel hatte; nämlich dass er ihr seine Fessel-Künste live vorführen würde. Nur zu diesem Zweck war es schließlich gekommen. Aber trotz seiner kühnen Worte vorhin konnte es sich einfach nicht vorstellen, sie zu fesseln. Auch wenn dies, so waren sie beide übereingekommen, der Hauptgrund für seinen Besuch war. Seine rechte Hand fasste den Griff der schmalen Tasche noch fester, in der seine Seile waren.
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