29. April 2008

Der König und die Priesterin

Sie hatte das Gefühl, ihre Arme seien in Schraubstöcke eingeklemmt. Die beiden Hünen rechts und links von ihr, die sie festhielten und über den Boden schleiften, als wäre sie ein willenloses Bündel, wären für manch einen kampferprobten Krieger schon einzeln weit überlegene Gegner gewesen.

Zu zweit und für sie als Frau, geübt in den Fähigkeiten der Heilkunst und nicht in denen der Verwundung, des Kampfes, waren es geradezu übermächtige Naturgewalten, denen sie ausgeliefert war.

Ohne die Chance, sich zu wehren, überließ sie sich der Misshandlung, versuchte, ihren Geist in andere Gefilde zu locken, weit weg von ihrem Körper, der wie eine Puppe über den nach dem Gefecht zertrampelten Sand gezogen wurde, in Richtung eines weißen Zeltes; des größten Zeltes auf diesem Platz, auf dem der Feind residierte, unmittelbar vor den Toren ihrer Stadt.

Ihrer vom Untergang bedrohten Stadt.

Einen Augenblick gelang es ihr, den Innenhof des Tempels vor sich zu sehen, die Kühle des Pflanzenschattens und des großen Brunnens zu spüren, doch das tröstliche Bild entglitt ihr sofort wieder.

Sie war nicht mehr im Tempel, wo sie sich für sicher gehalten hatte, zusammen mit anderen Priesterinnen und Priestern, unter dem Schutz ihres Gottes – sie war in der Hand der Feinde ihrer Heimatstadt.

In einem gezielten, schnellen Angriff hatten sie sich in den Tempel unmittelbar hinter dem schwächsten Teil der Stadtmauer gewagt, die zwei Priester getötet, die außer ihr die einzigen waren, die dort ausgehalten hatten, nachdem die Belagerung ihrer Heimatstadt begonnen hatte, das Gold geraubt.

Und sie geraubt.

Vor den König des fremden Heeres brachte man sie nun, der entscheiden sollte, was mit ihr geschehen würde.

Wo würde sie in ein paar Stunden sein, am Abend?

Tot? Und ihre unsterbliche Seele, wenn es sie gab, befreit?

Oder noch leidend, gemartert und gefoltert an ein massives Stück Holz gebunden und gefesselt, noch lebendig, aber mit dem sicheren Tod vor Augen, verzweifelt und absolut hilflos?

Niemand würde kommen, um sie zu befreien; soviel war sicher. Die Heerführer der Armee der Stadt würden für keine Frau, nicht einmal für eine Priesterin, den Tod von einigen ihrer Kämpfer in Kauf nehmen.

Der unvermeidlich wäre bei einem Angriff auf das feindliche Lager.

Oder würde sie enden als Sklavin des fremden Königs, als frisch gebadete und neu eingekleidete Liebesgespielin in seinem Bett, wo er sich auf sie rollen würde, ihre Jungfräulichkeit brechen und immer wieder zustoßen, in ihren weichen, weißen Leib hinein, der noch nie einem anderen Mann gedient hatte als ihrem Gott, einer bloßen Idee ohne Körper und ohne Schwanz?

Die Wachen teilten eilends das Leinen des Zelteingangs.

Eine letzte Anstrengung, und ihre beiden Begleiter – oder vielmehr Träger, Schleifer – ließen sie los.

Sie fiel, lag wie ein vergessenes Spielzeug vor dem mit Elfenbein und Gold verzierten großen Stuhl, in dem der fremde König saß.

Sie wagte nicht aufzublicken.

Mein König – die Priesterin„, sagte der Hüne rechts von ihr mit ernster Stimme.

Priesterin oder nicht – sie wird eine gute Bettgenossin abgeben„, hörte sie eine zweite Stimme, irgendwo im Zelt.

Es war nicht der König; von vor ihr war diese Stimme nicht gekommen, da war sie sich sicher.

Ach was – sie ist viel zu mager„, kam eine dritte Stimme, ihrem Gefühl nach zwar von vorne, aber von hinter dem König. „Keine Titten, keine Hüften. Und außerdem ist sie viel zu verwöhnt, wenn sie bisher nur einem Gott den Schwanz geblasen hat. Dagegen haben wir schlichte Sterbliche keine Chance.

Lautes Lachen folgte dieser lästerlichen Äußerung.

Sie versuchte, das alles auszublenden, versuchte erneut, mit ihren Gedanken in den Tempel zu fliehen. Den Tempel, den es nicht mehr gab. Das, was kostbar an ihm gewesen war, war schon vor dem Angriff geflohen, getötet oder geraubt worden, die Mauern des Tempels selbst jetzt zerstört.

Unsanft traf ein Fuß sie in den Rippen. „Knie dich gefälligst hin, wenn du vor deinem König bist!“, sagte grob der Hüne links von ihr.

Irgendetwas in diesem Satz gab ihr Kraft.

Mühsam richtete sie sich auf, nicht auf die Knie, sondern auf die Füße, schwankend stand sie auf und hielt mit den Händen ihr zerrissenes Priesterinnengewand notdürftig ein wenig vor ihre Blöße.

Er ist nicht mein König!„, sagte sie trotzig, und blickte nun dem Mann auf dem Thronsessel direkt ins Gesicht.

Dunkle Augen, die kalt wirkten, eine markante Nase, ein Bart, in dem sich Grau in das ursprüngliche Schwarz mischte, und im Gegensatz zu seinen Kämpfern, deren Haare durchweg mindestens schulterlang waren, hatte er kurze Haare, ebenfalls in Schwarz, mit Grau vermischt.

Seine Kleidung beachtete sie nicht; sie konzentrierte sich auf seine Augen.

Diese Augen, die so kalt waren, die kalten Fenster einer grausamen Seele, die nichts als Macht kannte, Kampf, Blut und Tod.

Eine harte Ohrfeige von links ließ ihren Kopf zur Seite schnellen. Sterne tanzten ihr vor den Augen, ihr Nacken schmerzte wie ausgerenkt.

So leicht würde sie es dem Feind nicht machen – eine Ohrfeige allein war nicht genug, sie zur Aufgabe zu bringen.

Er ist nicht mein König!“ wiederholte sie noch einmal, viel lauter, trotziger, bestimmter als vorher.

Der Hüne links von ihr hob erneut den Arm, doch eine Handbewegung des Königs ließ ihn erstarren.

Noch mag ich nicht dein König sein„, erklärte er, die Stimme dunkel, aber völlig ausdruckslos, ohne jede Betonung, „aber ich werde es bald sein. Deine Stadt wird fallen und mir gehören.

Auch das macht dich nicht zu meinem König!“ Das Zittern ihres gesamten Körpers strafte die Festigkeit in ihrer Stimme Lügen.

Das käme darauf an, wie du den Begriff König definierst„, kam es milde zurück. „Auf jeden Fall bin ich schon jetzt der Herr über dein Schicksal. Hältst du es für klug, dich mir zu widersetzen?

Es gibt Schlimmeres als den Tod!„, zischte sie.

Ein flüchtiges Lächeln huschte über die Lippen des Königs, halb verborgen in seinem Bart. „Oh ja – allerdings. Und ich denke, genau das solltest du mit aller Macht zu vermeiden suchen – das, was schlimmer ist als der Tod.

Er sprach so ruhig, als würde sie sich mit ihm gerade über das Wetter unterhalten, oder über die alltäglichen Aufgaben im Tempel des Gottes.

Dabei sprachen sie über ihr Schicksal, über Folter und Tod. Und über das Unaussprechliche, das, was sie nicht kannte; das, wovor ihr Aufenthalt im Tempel sie bisher bewahrt hatte. Das, was zwischen Mann und Frau ebenso gut die Erfüllung sein konnte wie die grausamste Folterung.

Genau das …„, begann sie eine Erwiderung, doch der König brachte sie mit einer weiteren Handbewegung zum Schweigen.

Bringt sie in mein Schlafzelt„, befahl er den beiden Hünen, „und sorgt dafür, dass eine Sklavin sie für die Nacht vorbereitet. Die Sonne geht bald unter. Danach werde ich mich persönlich um sie kümmern.

Fortsetzung folgt…

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