Irgendwann fällt mein Blick auf die große Küchenuhr an der Wand. Um Himmelswillen – schon gleich acht! Bei mir ist es egal, aber Antje kriegt einen barbarischen Rüffel, wenn sie nicht sehr bald im Büro ist.
Nur mühsam kann ich sie überreden, sich fertig zu machen. Noch immer sind ihre Hände überall. Anscheinend kann nicht einmal der Gedanke an den zu erwartenden Zorn unseres Chefs sie zur Vernunft bringen.
Schließlich werde ich energisch.
Lachend springt sie auf, verschwindet im Bad. Ich komme mit. Meine Augen kleben förmlich an ihr. Es ist ja nicht etwa so, daß ich unbedingt ins Büro will; ich könnte mir mindestens ein Dutzend weit angenehmerer Dinge vorstellen …
Kaum angekommen, schickt sie mich wieder zurück in die Küche, ihr einen Tee holen. Den hätte sie genauso gut gleich mitnehmen können, aber was soll’s. Ich mag es, sie zu bedienen. Und irgendwann werde ich wahrscheinlich auch aufhören, mich dessen zu schämen.
In zwei Minuten ist sie aus der Dusche wieder draußen. Sie wischt den Spiegel frei, holt ihr Schminktäschchen aus dem Schrank. Oh ja, das wollte ich schon immer einmal sehen, wie das dabei so abgeht. Die meisten Frauen, die ich kannte, haben sich ihre Kriegsbemalung in strenger Klausur aufgelegt, damit ich bloß nichts mitkriege. Als ob man das nicht sehen würde, daß eine geschminkt ist! Nur wie’s zustande gekommen ist, sieht man halt nicht.
Aha – Maskara aufgetragen. Viel zu dick, Antje! Ach so, sie nimmt das meiste davon mit einer kleinen Bürste wieder herunter. Jetzt hat sie lauter schwarze Flecken um die Augen, die sie sorgfältig mit Creme und einem Tuch entfernt. Dann noch ein bräunliches Zeug überall im Gesicht verteilt, etwas Puder drüber, eine farblose Lippensalbe – und schon packt sie das kleine Täschchen wieder weg. Was, schon fertig? Kein Wunder, daß sie zwar besser als vorher, aber eigentlich total ungeschminkt aussieht!
Ich dachte immer, Schminken sei eine wahre Wissenschaft. Lange genug brauchen die Frauen ja, bis sie es erledigt haben. Gefällt mir sehr, daß Antje da anders ist, unkomplizierter. Nötig hat sie es allerdings auch nicht, etwas unter Make-up-Schichten zu verstecken.
Dann schmeißt sie sich im Schlafzimmer in ihre Klamotten. Schwarzer Minislip, Nylons, wie immer kein BH, enger schwarzer Rock – wie aufregend der sich um ihre Beine schmiegt! -, eine ganz weite Bluse aus irgendeinem kühlen, glänzenden Zeug. Himmel, wenn sie sich bewegt, hat man manchmal kurz den Eindruck, sie sei völlig nackt, obwohl alles fein bedeckt ist. Bei mir schwillt etwas noch mehr.
Ich muß mich sehr beherrschen, daß ich nicht über sie herfalle. Aber wenn ich auch nur einen Schritt auf sie zu mache, ist alles zu spät. Vor allem ihr Eintreffen im Büro. Und von Delten ist sowieso nicht gut auf sie zu sprechen momentan. Ich will nicht, daß sie noch mehr Ärger bekommt.
Pünktlich sind wir zwar nicht, aber der Chef ist noch nicht da. Gottseidank!
Mit einem Blick verabschieden wir uns, und mir ist ganz kalt, als ich kurz darauf alleine an meinem Rechner sitze.
Ich hab ja soooo ’ne Lust zu arbeiten!
Der Vormittag schleppt sich so dahin. Kurz vor der Mittagspause beiße ich mich dann an einem Problem fest. Endlich etwas, das mich ablenkt von dieser blöden Unruhe, von der ich gar nicht so genau weiß, wo sie herkommt.
Meier will mich mit Gewalt mitzerren zum Essen, aber ich winke ab.
Nach einer Stunde bin ich noch immer nicht durch. Da reißt mich das Telefon aus meiner Konzentration. Welcher Dämlack wagt es, mich in der Mittagspause zu stören?
Barsch melde ich mich. „Hallo, David,“ sagt eine Stimme, die mir durch und durch geht. Irgend etwas Hartes in mir löst sich auf, schmilzt dahin und tropft in meinen Schwanz. Ich schlucke, strenge mich an, aber ich bringe kein Wort hervor. „Hast du Lust, mit mir eine Kleinigkeit essen zu gehen?“ kommt es aus dem Apparat. Ob ich Lust habe? Ob ich Lust habe??
Dafür würde ich meinen Rechner mitten in der Kompilierung verlassen!
„Wo?“ kann ich jetzt immerhin fragen.
Ja, den Inder in der Frankenstraße kenne ich.
Noch lange nach dem Ende des Gesprächs halte ich den Hörer in der Hand. Erst als ich aufgelegt habe, merke ich, daß meine Hände schweißnaß sind. Ich zittere am ganzen Leib.
Mit flatternden Fingern, fahrig, hole ich die Jacke aus dem Schrank. Vergesse meine Firmen-Codekarte, muß noch einmal zurück. Stelle auf der Straße fest, daß meine Brieftasche aus der Jackentasche gefallen sein muß. Kehre ein zweites Mal um. Habe ich jetzt endlich alles?
Auto fahren kann ich nicht. Ich suche mir um die Ecke ein Taxi. Zum Glück warten dort immer welche. Die Geduld, auf eines zu warten, hätte ich jetzt nicht. Lieber würde ich dann einen kleinen Dauerlauf hinlegen.
In der Parallelstraße steige ich aus. Die Frankenstraße ist Fußgängerzone, dorthin kommt kein Taxi. Erst bin ich ganz dankbar für den kleinen Aufschub. Wenigstens ein paar Schritte an der frischen Luft, damit ich zu mir kommen kann. Dann merke ich, daß meine Knie aus Pudding sind.
Die Ministrecke kommt mir endlos vor.
Das Restaurant ist ziemlich am Ende der Straße. Das schaffe ich nie! Aber irgendwie geht es doch. Schon von weitem sehe ich, daß neben dem Eingang jemand lässig gegen die Wand gelehnt dasteht. Mich trifft beinahe der Schlag.
Bloß konzentriert auf den Boden sehen, so, als würde ich ein verlorenes Fünfmarkstück suchen. Es hilft nichts; so krampfhaft ich es auch versuche, nach unten zu blicken, immer wieder schweifen meine Augen nach oben, zu der Gestalt, die ich sofort erkannt habe. Ebenso wie die Stimme.
Alexander mußte sich nicht melden. Ich hätte auch bei weniger als den zwei Begrüßungsworten gewußt, wer am anderen Ende ist.
Jetzt löst er sich mit einem Schwung von der Mauer, der mir das Blut ins Gesicht treibt, kommt auf mich zu.
Hilfe, nein, wo ist mein Mauseloch?
Mein Mund ist ganz trocken.
Er sagt nichts, sieht mich nur an. Ich könnte ohnehin kein Wort zu einer Unterhaltung beisteuern.
Schweigend gehen wir hinein, setzen uns an einen Tisch.
Plötzlich lächelt er. „David, nicht daß du denkst, ich sei total ungerührt. Ich bin heidenmäßig aufgeregt, mein Herz hämmert, und ich zittere wie blöd.“ Das kann doch gar nicht sein! Er wirkt so absolut ruhig!
Langsam sickert sein Eingeständnis durch die Erstarrung, die mich erfaßt hat. Ich muß hellauf lachen, und er stimmt mit ein. Oh Gott, Alexander!
„Ich habe zwischendurch befürchtet, ich komme nie an, so wacklig waren meine Knie,“ erkläre ich.
Als ob es ein Stichwort wäre, spüre ich unter dem Tisch seine Finger genau darauf, auf meinem Knie. Ein warmer, zuckender Strom geht von der Berührung aus, strebt genau zu meinen Eiern. Nur ganz kurz, dann zieht er seine Hand wieder zurück.
Gallige Enttäuschung füllt meinen Mund.
Genau in diesem Augenblick kommt der Kellner. Nein, ich mag nichts essen. Ich will mich Alexander in die Arme schmeißen, ihm ganz nah sein. Forschend sieht er mich an, bestellt dann für uns beide.
Wieder herrscht Schweigen. Warum, zum Teufel, kann ich bloß nichts sagen? Ich bin doch sonst nicht so zurückhaltend! Aber nichts geht.
Erneut ist es Alexander, der anfängt zu reden. „David, ich will nicht um den heißen Brei herumreden. Du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich fürchte, ich habe mich in dich verliebt.“
„Warum fürchtest du?“ frage ich, voller Angst vor der Antwort. „Weil es für uns alle möglicherweise einen Haufen Probleme mit sich bringt,“ antwortet er. „Für dich, für Antje, für mich.“
Antje! Du liebes Bißchen – nicht, daß ich sie vergessen hätte, sie ist ja in mir, aber daß das Treffen mit Alexander in Bezug auf sie Folgen haben könnte, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Oh je, Scheiße, sie wird mich in der Luft zerreißen!
„Du weißt, daß ich bi bin,“ fährt Alexander nun fort. „Und ich denke, du bist es ebenfalls. Antje weiß es auch – beides; und sie weiß weiter, daß es zwischen uns knistert. Moralisch entrüsten wird sie sich darüber nicht. Wenn ich mich nicht vollkommen irre, reizt sie der Gedanke sogar sehr, daß wir uns zueinander hingezogen fühlen. Aber ganz einfach ist es für sie auch nicht. Genau darüber will ich mit dir sprechen. Ich werde sie nicht belügen. Es kommt also nicht in Frage, daß wir einfach heimlich etwas miteinander anfangen. Dazu bedeutet sie mir zu viel. Ich kann und will sie nicht hintergehen. Dasselbe gilt für dich, oder?“
Ich kann nur nicken.
„Andererseits sind die beiderseitigen Gefühle nun einmal da,“ erklärt Alexander. „Sie wegdrücken, wenn das überhaupt möglich ist, führt nur dazu, daß wir beide Magengeschwüre kriegen oder total mürrisch werden.“
„Du weißt, daß Antje auch in dich verknallt ist, und zwar ziemlich?“ unterbreche ich ihn. Er wird rot. „Das beruht auf Gegenseitigkeit,“ erwidert er leise. „Und das ist auch genau die Hoffnung, die ich habe. Was ich für dich empfinde, schließt sie nicht aus. Dir geht es nicht anders, und ihr auch nicht, was uns beide betrifft.“
Es kommt mir vor, als hätte jemand einen Vorhang beiseite gezogen. Ich merke auf einmal, daß draußen eine ganze neue, unbekannte Welt liegt. Bin fast geblendet davon. Bisher kannte ich es nur, daß man eine Beziehung hat. Punktum. Weitere waren zwar faktisch möglich, aber nicht erlaubt. Konsequenz: Man machte es heimlich.
Nur, warum eigentlich? Warum nicht offen? Alexander hat ja recht – die Atmosphäre kribbelt nur so, und das betrifft uns alle drei; Antje, ihn und mich.
Mir wird ganz schwach. Das wäre ja viel zu schön, um wahr zu sein, wenn man das nicht verstecken müßte, offen dazu stehen, es offen leben könnte. Oh Mann, ich bin völlig durcheinander!
Alexander scheint es zu spüren. Mit einem Lächeln, für das ich ihn küssen könnte, bemerkt er: „David, wir werden heute keine Lösung finden. Das ist auch gar nicht nötig; wir müssen ja nichts überstürzen. Es muß alles ganz langsam wachsen. Ich wollte dich nur sehen, um den ersten Vorstoß zu machen. Erstens ist das ohnehin meine Aufgabe, in der dominanten Rolle. Und zweitens hatte ich das Gefühl, du erlaubst es dir einfach nicht, über mich, über uns, über Antje nachzudenken, in diesem Zusammenhang. Ich wollte dir zeigen, daß es sehr wohl eine Möglichkeit gibt, auch diese Träume vielleicht eines Tages zu leben. Kein Mensch weiß, was wirklich passieren wird. Du solltest es nur nicht von vornherein ausschließen.“
Ich bin ganz hin und weg. Nein, ich kann nicht anders, ich muß ihm das zeigen. Vorsichtig, zögernd, sachte lege ich eine Hand über seine. Er ergreift sie und drückt sie fest.
Womit habe ich das nur verdient, gleich zwei so großartige Menschen zu kennen, Antje und Alexander?
Ob das am Anfangsbuchstaben des Vornamens liegt? Ach Quatsch, jetzt fang bloß nicht an, deine Rührung mit flippigen Kommentaren zu leugnen, beschimpfe ich mich selbst. Du bist gerührt – also, dann steh dazu!
Noch einmal sehen wir uns an. Ich versinke, löse mich auf.
„Themawechsel?“ fragt Alexander dann. Enttäuscht und erleichtert gleichzeitig stimme ich zu. Auf einmal habe ich auch einen Mordshunger und bin ihm dankbar, daß er etwas für mich mitbestellt hat.
Zwei Stunden sitzen wir noch zusammen. Mir ist es sowas von schnurzegal, ob ich nachher Ärger kriege oder nicht. Ich will hier nicht weg.
Aber irgendwann ist es doch soweit.
Draußen umarmt mich Alexander, berührt ganz kurz und sanft meinen Mund mit seinen Lippen. Mehr, möchte ich schreien, oh, so viel mehr. Doch er hat recht – es ist noch nicht so weit.
Ich laufe den ganzen Weg zur Firma zurück und singe dabei vor mich hin. Die anderen Leute müssen mich für total bescheuert halten.
Es stört mich nicht.
Ich bin glücklich.