19. Dezember 2008

Seitensprung beim Seminar: Der Fremde im Aufzug – Teil 1/2

Ich hasse Workshops, Wochenendseminare und Fortbildungskurse. Nicht dass ich etwas dagegen hätte mich weiterzubilden; das ist ja heutzutage in jedem Beruf unerlässlich. Aber für solche Veranstaltungen geht dann im Zweifel immer mindestens ein Wochenende drauf. Das ist ja sonst die einzige Zeit, außerhalb des Urlaubs, wo sich Berufstätige auch mal ausruhen und entspannen können. Da kommt man aus einer stressigen Arbeitswoche, treibt sich auf einem solchen Seminar herum – und kaum hat man das glücklich hinter sich gebracht, geht es ohne Pause weiter mit der nächsten stressigen Arbeitswoche. Noch dazu ist mindestens die Hälfte der Zeit, die man auf solchen Workshops verbringt, absolut überflüssig. In aller Regel könnte ich es mir in zwei Stunden gut selbst beibringen, was ich dort an zwei Tagen beigebracht bekomme. Und weil die Fortbildung meistens ja auch nicht am Heimatort stattfindet, sondern ganz woanders, habe ich noch die anstrengende Fahrt hin und zurück und kann mich nicht einmal an den Abenden wenigstens ein bisschen erholen, sondern langweile mich im Hotelzimmer. Oder verbringe langweilige Stunden mit Leuten, die ich weder kenne, noch eigentlich kennenlernen wollte und mit denen es auch überhaupt keinen Spaß macht, zusammen zu sein; nur damit man mich nicht als Außenseiter verspottet, der ständig für sich bleibt.

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Aber es hilft ja alles nichts – Weiterbildung muss sein, darauf besteht mein Chef; und recht hat er damit; aber er besteht eben leider auch darauf, dass es auf solchen Seminaren geschieht. Dummerweise ist mein Chef gleichzeitig mein Ehemann. Deshalb kann ich mich umso weniger gegen solche Vorschläge wehren. An dem Wochenende, wo ich sonst auf einem Seminar wäre, hätte ich sonst auch überhaupt keine Freude, sondern einen ziemlichen Ehekrach im Haus. Deshalb lasse ich mich dann doch immer mal wieder breitschlagen dazu, ein solches Seminar zu besuchen. Dieses Wochenende ist gerade wieder mal eines; über Ethno Marketing. Klingt ja schon interessant; aber ich bin sicher, ich werde dort nicht halb soviel lernen, wie wenn ich über das Wochenende ein paar Artikel im Internet oder in Fachzeitschriften lesen würde. Vor allem verstehe ich es nicht, warum man das Seminar dann auch noch ausgerechnet am Freitagabend beginnen lassen muss, und auch noch Hunderte von Kilometern weit weg, so dass ich mich nach der Arbeit gleich ins Auto setzen und eine Wahnsinnsstrecke mitten im Wochenendeverkehr bewältigen musste. Eine Zugfahrt oder gar einen Flug bezahlt mein Chef und Ehemann mir leider nicht.

Nun ja, es hilft ja alles nichts. Immerhin bin ich jetzt schon mal im Hotel angekommen; ein ziemlich trostloser, grauer Bau aus den 50er Jahren. Hätten die sich nicht wenigstens ein modernes Gebäude dafür aussuchen können? So eines mit Sauna und Massage und Fitnessraum? Aber nein – diese Bruchbude musste es unbedingt sein, ohne jeden Komfort. Hoffentlich gibt es wenigstens in der Umgebung ein Fitness Studio, das mich über das Wochenende als Gast aufnimmt. Erstens kann ich dort meine Aggressionen über diese unsinnige Veranstaltung abbauen beim Strampeln und Gewichtheben und Laufen, und zweitens muss ich, ich bin jetzt Mitte 30, schon verdammt aufpassen, dass ich nicht aus der Form komme und aus dem Leim gehe. Ich bin zwar noch immer so schlank wie als Teenager; aber heute kostet es mich unglaubliche Mühe, was mir früher einfach so die Natur geschenkt hat. Ohne Sport verkrafte ich das Seminar nicht. Deshalb frage ich gleich beim Einchecken an der Rezeption, ob man mir da nicht was empfehlen kann. Doch dort zuckt man nur die Achseln, weiß nichts und ist auch nicht bereit, sich um eine Antwort zu bemühen. Für einen Orstkundigen hätte es ja schließlich nur einen Blick ins Branchenbuch gekostet. Wutschnaubend packe ich meinen Overnight Case und rausche ab, in Richtung Aufzug. Ich werde für die paar Kilo Gepäck keinen Pagen beanspruchen, dem ich nachher noch fünf Euro Trinkgeld geben muss. Die Aufzugtür hat sich noch nicht ganz geschlossen, da sehe ich einen Mann in etwa in meinem Alter, ebenfalls mit kleinem Köfferchen, herbeieilen. Fast bin ich ja versucht, nichts zu tun, so dass ihm die Tür gerade so vor der Nase zugleitet, denn das ist bestimmt ein anderer Seminarteilnehmer, den ich noch früh genug kennenlernen würde, aber ab und zu kann ich ja auch mal ein höflicher Mensch sein; ich drücke auf den entsprechenden Knopf, die Aufzugtür geht wieder auf. Wofür sich der Mensch überschwänglich bei mir bedankt; immerhin ist er höflich.

Er sieht eigentlich auch gar nicht schlecht aus; obwohl ich jetzt aus der Nähe feststelle, er ist dann doch eher Mitte 40 als Mitte 30. Bei seinem Igelschnitt sieht man aber die grauen Haare nur aus der Nähe, denn er hat als Haarfarbe diesen ganz speziellen Ton blond, in dem das Grau völlig untergeht. Nur wenn man genau hinschaut glitzert es an einzelnen Stellen etwas silbrig. Ansonsten ist er groß und ziemlich kräftig. Ob das wohl Fett oder Muskeln sind? Sein Anzug sitzt perfekt und sieht teuer aus. Da ich mich für die Fahrt nicht extra schick gemacht habe, sondern ganz leger in Jeans und Pulli hier auftauche, ist mein Ledermantel das einzige, mit dem ich ihm Konkurrenz machen könnte. Den ziehe ich auch gleich fest um mich. Irgendwie wirkt dieser Mensch selbstbewusst. Mehr als selbstbewusst; aber auch nicht arrogant oder überheblich, sondern eher so, als lebe er in seiner eigenen Welt. Das macht ihn mir gleich sympathisch, dass er unsere Zufallsbekanntschaft nicht gleich zum Anquatschen ausnutzt. Andererseits lässt mich genau diese Tatsache es auch bedauern, dass er es nicht tut – und so beißt sich die Katze dann in den Schwanz und ich beiße mir auf die Unterlippe, damit ich nun nicht selbst mit irgendeinem dummen Spruch herausplatze. Nach meiner Höflichkeit scheint er einen ganz guten Eindruck von mir zu haben, den will ich nicht zerstören. Bestimmt sehe ich ihn ja nachher bei der Begrüßung der Seminarteilnehmer wieder.

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In dem Punkt irre ich mich jedoch, wie ich schnell feststelle, als ich etwa eine Stunde später den Saal betrete, der durch Plakate deutlich sichtbar als unser Seminarraum gekennzeichnet ist. Zuerst einmal schnell und dann langsamer, gründlicher durchforste ich die Reihen der bereits anwesenden Seminarteilnehmer. Ich habe es mir zum Prinzip gemacht, bei solchen Gelegenheiten meistens relativ spät aufzutauchen, denn dann muss man sich weniger mit völlig Unbekannten über Belangloses unterhalten. Doch bei keinem meiner forschenden Rundblicke kann ich den grau-blonden Igelschnitt entdecken.

Möglichst unauffällig verschwinde ich in einer der hinteren Reihen, die ich bevorzuge, weil man von dort weniger oft für irgendwelche peinlichen Vorführungen nach vorne gerufen wird und meistens sogar das Glück hat, neben sich noch einen zusätzlichen Platz zu haben, wo man Unterlagen, Tasche und so weiter ablegen kann, statt alles irgendwie auf den Schoß oder unter den Stuhl quetschen zu müssen. Ich gebe es ungern zu, aber dass der Aufzugs-Nachzügler nicht zu sehen ist, enttäuscht mich dann doch sehr. Die lahme Begrüßung des Seminarleiters kann mich darüber nicht hinwegtrösten, und dass ich während des ersten Vortrags nicht ein einziges Krümelchen Neues dazulernen kann, versaut mir die Laune weiter. Es ist merkwürdig – normalerweise interessiert mich auf den ganzen Seminaren kein Mensch. Und schon gar nicht ein Mann. Denn wenn ich ehrlich bin denke ich an den Fremden, den ich nur kurz gesehen habe, schon längst nicht mehr nur in Zusammenhang mit einem Blickwechsel während einer Gruppenarbeit oder einem netten Gespräch nach dem Abendessen. Nein, dieser Mensch hat es in den wenigen Augenblicken geschafft, sich in mein Herz zu schleichen. Oder sagen wir mal, er ruht etwas weiter unten und etwas weiter in der Mitte und sorgt dort für kribbelnde Aufregung.

Das ist mir vorher noch nie passiert. Ich bin meinem Mann bisher immer treu gewesen; und wenn ich noch so sauer auf ihn war. Es hat mich einfach noch nie ein anderer Mann so sehr gereizt, dass ich einen Seitensprung dafür riskiert hätte. Schon gar nicht weil die einzige Gelegenheit, wo ich mal allein unterwegs bin und nicht unter der Aufsicht meines Mannes stehe, solche Seminare sind. Das ist eben der Nachteil, wenn man miteinander verheiratet ist und auch zusammen arbeitet im beruflichen Bereich – man sieht sich fast ständig. Nun ja, und auf solchen Seminaren werde ich den Teufel tun und fremdgehen; da wird doch soviel geklatscht, jeder achtete genau darauf, was die anderen tun, kein Seitensprung bleibt verborgen, im Nu hat es die ganze Gruppe mitbekommen – und wer weiß, ob da nicht doch mal irgendwann etwas zu meinem Mann durchdringt. Erstens kennt er sicher den einen oder anderen, der anwesend ist, womöglich sogar, ohne dass ich das weiß, und zweitens könnte sich ja auch ein moralbewusster verantwortungsvoller Mensch gehalten sehen, meinen Mann aus reinem Altruismus darüber aufzuklären, dass da ein Betrügen im Gange ist. Andererseits, nachdem der Fremde ja gar kein Teil unserer Seminargruppe ist, kann da ja eigentlich nichts passieren … Ich muss mich eben einfach nur weitgehend für mich halten und schauen, dass ich niemandem aus dem Seminar begegne, und schon könnte ich mit dem Igelschnitt flirten, so intensiv wie ich will, ganz ohne jedes Risiko, dabei erwischt zu werden. Ich könnte sogar die Nacht in seinem Zimmer verbringen … Ach was, jetzt läuft mir aber wirklich meine Fantasie davon!

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Außerdem, okay, ich könnte mit ihm flirten. Dumm bloß, dass ich ihn dafür ja aber erst einmal wiedertreffen muss. Im Seminar ist er nicht, seinen Namen weiß ich nicht, sonst könnte ich ja an der Rezeption nach ihm fragen. Allerdings nicht mit: „Sagen Sie mal, der Herr im graublonden Igelschnitt, der heute Nachmittag eingetroffen ist, wie heißt der, welches Zimmer hat der und ist er mit Frau da?“ Ja, ich kann mir das mokierte Gesicht der Tussi am Empfang schon vorstellen und das schadenfrohe Grinsen, wenn ich das frage und sie mir am Ende mitteilt, dass Herr Soundso mit Gattin angereist ist. Da ich vor ihm aus dem Aufzug ausgestiegen bin, weiß ich nicht einmal, auf welchem Stock er sein Zimmer hat. Ich habe nicht darauf geachtet, welche Zahl er gedrückt hat. Wie gesagt, normalerweise versuche ich, mich auf solchen Veranstaltungen ganz in mich selbst zurückzuziehen und möglichst wenig Kontakt mit der Außenwelt zu haben. Wie also finde ich den Menschen denn jetzt? Ich kann natürlich hoffen, dass er irgendwann auch zum Abendessen im Speisesaal sein wird. Nachdem ich mich aber fürs Essen entschuldigt habe, damit ich die anderen Seminarteilnehmer nicht sehen muss, kann ich da ja jetzt schlecht doch auftauchen. Und mich vor dem Speisezimmer ins Foyer zu setzen, um unauffällig alles zu beobachten kommt mir nun doch zu lächerlich vor. Nein, ich werde einen anderen Weg finden müssen. Ich bin richtig hektisch auf einmal. Gerade die Tatsache, dass sich mir der faszinierende Fremde so hartnäckig entzieht, als ob er das absichtlich tun würde macht ihn für mich nur noch viel interessanter. Jetzt will ich ihn erst recht haben. Meine Güte, was brabbele ich da eigentlich in Gedanken vor mich hin? Will ich das wirklich, will ich einen Flirt, womöglich gar einen Seitensprung erleben, hier auf diesem Seminar? Verdient hätte es mein Mann ja; und der Graublonde reizt mich wirklich sehr.

Aber fürs Erste wird mir nichts anderes übrig bleiben als auf irgendeinen Zufall zu hoffen, der uns beide wieder zusammenbringt. Nachdem er gerade erst gekommen ist, wird er ja sicher mindestens bis morgen bleiben, und der Freitag Abend ist noch lang. Nachher versuche ich es auf jeden Fall auch mal in der Hotelbar. Das ist übrigens mal wieder typisch – in der Bar ist natürlich alles modernisiert und neu, aber ein Schwimmbad oder eine Sauna haben sie nicht nachträglich noch installiert, nicht einmal für ein paar Fitnessgeräte im Keller, in einem ehemaligen Wäscheraum oder so hat es gereicht. Das erinnert mich daran – ich wollte ja versuchen, irgendwo in der Gegend ein Fitness Studio zu finden. Jetzt ist ein neuer Typ am Empfang; die schnippische, überlastete Tussi von vorhin ist weg. Dann versuche ich es doch gleich noch einmal mit meiner Frage. Immerhin, der junge Mann winkt nicht einfach nur ab. Helfen kann er mir allerdings auch nicht; er ist ziemlich neu in der Stadt und hat keine Ahnung, ob es irgendwo in der Nähe des Hotels einen Fitness Club gibt. Gerade will ich mich entnervt umdrehen, da höre ich eine angenehm sonore Stimme in meinem Ohr: „Aber selbstverständlich gibt es da etwas„, sagt der Fremde aus dem Aufzug, und ich kann nicht anders, ich muss ihn einfach anstrahlen, so froh bin ich, ihn zu sehen. „Sogar ganz nahe. Ich bin gerade dorthin unterwegs. Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen den Weg.“ Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass er unterwegs zum Fitness Training ist; er trägt noch immer den schicken Anzug. Immerhin bin ich selbst ja jetzt nach dem Begrüßungsteil des Seminars präsentabler. „Wenn Sie einen Moment auf mich warten könnten?“, bemerke ich atemlos. „Ich muss meine Sportsachen holen.“ „Ich warte dort drüben auf Sie„, nickt er und zeigt auf eine lieblos gruppierte Anordnung von Plüschsofas in einem ganz scheußlichen, wie angestaubt aussehenden Rosa. „Ich beeile mich„, verspreche ich und renne los, sehr beschwingt, und voller Vorfreude auf mein Date; auch wenn es – zumindest bislang – nur ein Date zum Gang ins Fitness Studio ist. Ich werde euch berichten, wie es war – und wie es weitergeht … Was es ja hoffentlich tun wird!

+++ Fortsetzung folgt +++

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