Natürlich brachte ich morgens keinen Bissen herunter. Meine widerspenstigen Haare erlebten mehrfach das Ereignis Schaumfestiger-Fönen-Zupfen-und wieder nass machen; mein Make-up, ohnehin nicht meine starke Seite, brachte mich diesmal vollends zur Verzweiflung, und erst die fünfte Auswahl an Klamotten blieb auf mir drauf. Allerdings nicht etwa, weil mir das Abbild besonders gefallen hätte, das mir dabei aus dem Spiegel linkisch entgegengrinste, sondern weil keine Zeit mehr war für ein erneutes Umziehen. Schließlich hatte ich meinen Cityglider auf acht Uhr bestellt. Er kam dann auch, relativ pünktlich, um zehn Minuten nach. Das entlockte mir ein zufriedenes Lächeln, als ich eingestiegen war. Ich hatte nämlich mit der üblichen Verspätung von etwa 20 Minuten gerechnet und das Ding deshalb eine halbe Stunde früher als nötig angefordert.
Da konnte ich wieder einmal richtig stolz auf mich sein, dass ich so vorausschauend geplant hatte. Allerdings führte das natürlich auch dazu, dass ich fast eine halbe Stunde zu früh am Ziel war. Jetzt eine Zigarette, dachte ich. Aber das ließ ich doch lieber sein. Erstens war es sowieso verboten, und wenn man mich erwischt hätte, hätte ich mir den neuen Job gleich abschminken können. Außerdem war ich nicht sicher, ob mein Vanille-Parfüm und ein Pfefferminzbonbon gegen den Geruch ankommen würden. Und schließlich und endlich besaß ich bloß noch drei Zehner-Packungen, und die Aussichten auf Nachschub waren mau. Meinen Dealer hatten sie vorige Woche doch erwischt. Zum Glück gehört er noch zu den altmodischen Leuten, die ihre Kunden- und Lieferanten-Listen im Kopf haben statt im CPMWI, dem Cepi. Nicht ganz so vielseitig, das Gehirn, aber dafür immer noch etwas sicherer vor fremden Eingriffen. Es kommen zwar immer wieder Gerüchte auf, dass die Regierung mit neuen Wahrheitsdrogen experimentiert, aber irgendwie glaube ich nicht, dass sie das auch bei so kleinen Fischen tun. Hoffentlich habe ich recht damit!
Apropos Cepi, meine Mailbox hatte ich natürlich heute morgen vor lauter Aufregung auch noch nicht kontrolliert, obwohl mich der Incoming Mail Alert beim Weckruf darüber informiert hatte, dass neue Mails eingegangen waren. Ein langes Mail von meiner Freundin Sylvia – das musste leider warten bis nachher. Dann die Bestätigung des Termins für das Vorstellungsgespräch. Na, besser spät als nie. Zum Glück war es keine kurzfristige Absage. Langsam wurde es Zeit hineinzugehen. Angesichts der 60 Stockwerke musste ich damit rechnen, längere Zeit zu brauchen bis zur Ankunft bei meinen Gesprächspartnern. Es heißt zwar immer, dass es reicht, wenn man sich pünktlich beim Empfang meldet. Aber irgendwie glaube ich das nicht. Die Gesprächspartner in ihren Zimmern warten doch nicht geduldig die Minuten, die man danach noch braucht, und bleiben trotzdem gut gelaunt. Es klappte alles wie am Schnürchen, zwei Minuten vor der vereinbarten Zeit saß ich in einem kleinen Besprechungsraum in der vorletzten Etage, von der Sekretärin bereits mit Kräutertee und Vitola versorgt. Auf die Sekunde pünktlich – ich war gerade dabei, meinen Date Remind Alert auszustellen – erschien dann Uloglu, seines Zeichens Personalchef von Universal Computers (UC), zusammen mit Brandmeier, einem der zahlreichen Geschäftsführer, und kurz darauf erschien auch Haydon, der Ausbildungsleiter für das Projekt, für das ich mich beworben hatte. Ich war nicht gerade begeistert davon, erst einmal ein halbes Jahr Ausbildung hinter mich zu bringen, bevor es endlich richtig losging. Aber falls sie mich als völligen Neuling auf dem Gebiet der Raumfahrt überhaupt akzeptierten und mich auf ein Schiff ließen, musste ich froh sein. Die sechs Monate Vorbereitung waren dann ein kleiner Preis für die Erfüllung eines meiner größten Träume.
Nach ein bisschen Höflichkeitsgeplänkel ging es voll zur Sache. Es war ein absolut typisches Vorstellungsgespräch. Zuerst verlor man auf der Seite der anderen ein paar Worte zur Firma (als ob ich das nicht alles schon wüsste, und es wurde natürlich auch erwartet, dass ich mich entsprechend vorbereitet hatte, so dass das alles eigentlich überflüssig war; aber wahrscheinlich ist es immer wieder schön, die klangvolle Zusammenfassung der History und der Erfolge von sich zu geben). Dann zu meinen Qualifikationen, meiner Berufserfahrung. Und natürlich fehlten auch nicht die Fragen „Wie stellen Sie sich denn so die Position vor, für die Sie sich beworben haben“, und „Was hat Sie denn bewogen, sich gerade für die Raumfahrt zu entscheiden“, und so weiter. Haydon schrieb meine Antworten eifrig mit und las auch immer wieder in meinem CV und den anderen Bewerbungsunterlagen nach, ob ich entweder die Wahrheit sagte, oder aber meine Lügen wenigstens gut genug beherrschte, um mir nicht zu widersprechen. Es lief eigentlich alles ganz gut, die Atmosphäre wurde immer entspannter, man lächelte und machte kleine Scherze, und alles sah schon nach einer Verabschiedung mit dem üblichen „Wir werden uns bei Ihnen melden“ aus. Aber plötzlich schien Haydon etwas einzufallen, und nach einem kurzen Getuschel zwischen den Herren griff er zu seinem CPMWI und telefonierte. Dann erklärte er mir mit einem strahlenden Gesicht, „Wir wollen Ihnen gerne noch Jonit vorstellen, den ersten Offizier auf dem Raumschiff, mit dem Sie dann mitfliegen werden, falls wir uns für Sie entscheiden sollten!“ So, wie er das sagte, hatte ich den Eindruck, sie hätten sich bereits für mich entschieden. Warum sonst hätten sie mich auch noch dem ersten Offizier vorführen sollen? Und das trotz der Masse anderer Bewerber. Aber noch ist nicht aller Tage Abend, sagte ich mir, und ich behielt recht damit. Plauder, plauder. Man unterhielt sich über belangloses Zeug, und ich machte mit, um zu zeigen, wie entspannt ich war. Jonit ließ sich Zeit. Aber plötzlich war er da und saß schneller neben Haydon, als ich den Kopf heben konnte. Seine Begrüßung bestand lediglich aus einem kurzen Kopfnicken.
Ich war begeistert. War dieser Mann schön! Jonit war ein Ageloru; groß, schlank, aber muskulös, blauschwarzes Haar, intensiv-dunkle Augen, wahrhaft aristokratische Gesichtsform. Kurz: Zum Verlieben – wie fast alle Ageloru. Irgendwie scheinen sie auf diesem Planeten die Schönheit gepachtet zu haben. Und den Verstand noch dazu. Lauter Spitzenleute. Bloß mit den Gefühlen hapert es ein bisschen – in ihrer eigenen Sprache gibt es nicht einmal ein richtiges Wort dafür. Und in ihrem Gehirn keinen Platz – das Gefühlszentrum fehlt ihnen fast völlig. Alles reine Logiker, aber das in Reinkultur. Naja, man kann nicht alle haben. Sonst wäre es ja auch zu ungerecht den Bewohnern anderer Planeten gegenüber. Wann immer von einem Ageloru die Rede war, sprach man auch heute immer noch von einer Geschichte, die vor Jahrhunderten auf der Erde verbreitet worden war, damals noch über altmodische Geräte zur reinen einseitigen, non-interaktiven Bildbetrachtung, sogenannte Fernseher, die Geschichte des Raumschiffs Enterprise, Startrek, mit ihrem Mr. Spock, einem Vulkanier. Die Erfinder dieser Geschichte hätten es sich sicherlich nicht träumen lassen, dass es solche Menschen tatsächlich gibt, allerdings nicht auf dem Planeten Vulkan – ein solcher Planet existiert gar nicht-, sondern auf Agelor. Jonit warf einen schnellen Blick auf Haydons Unterlagen, musterte mich kurz und stellte dann die Frage, vor der ich mich die ganze Zeit gefürchtet hatte. „In Ihrer Referenzarbeit bei Abschluß des Studiums äußern Sie sich sehr kritisch zum Thema Raumfahrt. Heute streben Sie eine Stelle in genau diesem Bereich an. Woher der plötzliche Sinneswandel?“ Die anderen drei waren wie erschlagen. Ich hatte fest darauf vertraut, dass sie sich die Mühe nicht machen würden, meine Referenzarbeit zu lesen. Damit hatte ich ja auch richtig gelegen. Ohne Jonit hätten sie diesen Widerspruch nie bemerkt.
Was nun, sprach Zeus. Ich versuchte es zunächst einmal mit einer ausweichenden Antwort. „Es ist eben genau das, ein Sinneswandel. Nicht mehr und nicht weniger.“ „Worin begründet?“, fragte Jonit trocken. Hartnäckig, der Kleine. Oder vielmehr der Große. Ich stotterte etwas von zunehmendem Wissen und wachsender Erfahrung. „Und was ist der wahre Grund?“, unterbrach mich Jonit. Anscheinend war er nicht gewillt lockerzulassen. Also denn, heraus mit der Wahrheit. Ich holte tief Luft. „Da Sie sich ja intensiv mit meiner Arbeit beschäftigt haben, ist es Ihnen sicher nicht entgangen, dass es sich um eine Teamarbeit unter der Leitung von Prof. Hellwig handelt.“ Ich zögerte. Jonit zog die Augenbrauen hoch. „Und?“ „Und – Prof. Hellwig war und ist ein aktiver Gegner der Raumfahrt. Ich konnte ihn mit meinen Argumenten für die Raumfahrt nicht überzeugen. Und da mir im Endeffekt der Abschluss wichtiger war als meine Meinung, wenn ich das einmal so ganz direkt sagen darf, habe ich mich eben untergeordnet.“ Ich war rot geworden bei dieser Erklärung, die zwar der Wahrheit entsprach, aber trotzdem – oder gerade deshalb? – geradezu lächerlich klang. Die anderen Herren schmunzelten. Das war’s dann ja wohl mit dem Job, dachte ich. Jonit verzog keine Miene. Danach ging alles sehr schnell, ich gab allen das Patschhändchen, ohne die Hoffnung, jemals einen von ihnen wiederzusehen. Ich wollte nur noch zurück nach Hause. Als ich Jonits Hand berührte, durchzuckte mich etwas wie ein elektrischer Schlag. Der Name Saro und Gedankenfetzen, die zu schnell kamen, als dass ich sie hätte wirklich aufnehmen können, schienen über die Stelle des physischen Kontakts mit Jonit in meinen Körper, in mein Gehirn zu fließen. Hastig zog ich meine Hand zurück. Ich war völlig verwirrt, und auch Jonit war sichtlich erstaunt – was man allerdings nur an den leicht hochgezogenen Augenbrauen sehen konnte. Anscheinend eine typische Geste von ihm.
Die Fähigkeit vieler Ageloru, Gedanken zu lesen und manchmal auch zu übertragen, war mir bekannt. Aber soweit ich wusste, funktionierte das nur unter ihresgleichen; und auch da nicht immer. Natürlich ging mir Jonit die nächsten Tage nicht aus dem Kopf. Ich träumte von ihm, dachte an ihn, beschimpfte mich dafür, und war die ganze Zeit kurz vorm Heulen bei dem Gedanken, dass ich ihn ohnehin nie wiedersehen würde. Uloglu hatte mir beim Abschied mitgeteilt, dass sie sich im Laufe der nächsten 14 Tage bei mir melden und mir ihre Entscheidung bekannt geben würden. Aber nach dem Fiasko mit meiner Referenzarbeit hatte ich kaum noch Hoffnung, den Job zu kriegen. Trotzdem wollte ein kleiner Teil meiner Gedanken sich noch nicht mit der zu erwartenden Ablehnung abfinden. Bei jedem Anruf, jedem Mail saß ich da mit trockenem Mund, enttäuscht und erleichtert, wenn es nicht UC war. Zum Glück hatte ich ja meine Arbeit. Nicht, dass sie Spaß gemacht hätte; deshalb suchte ich ja einen neuen Job. Es war halt langweilig. Aber ein bisschen lenkte es schon ab. Etliche Tage später war ich gerade dabei, ein neues Design für einen Haushaltsroboter in Worte zu fassen (ich habe mich nie daran gewöhnt, erst zu denken und dann zu entwerfen; so stand auch hier der Entwurf schon fest und ich musste nur noch begründen, warum es dieser Entwurf sein musste), als mein Incoming Mail Alert mich aus der Konzentration riss. Absender: UC. Meine Hände zitterten so sehr, dass die Buchstaben vor meinen Augen verschwammen und ich die Vorlese-Funktion aktivieren musste. Sehr geehrte Frau Lamin, blablabla, und deshalb würde ich mich sehr freuen, Sie am 17.5. um 16.00 Uhr in unserem Raumfahrtzentrum begrüßen zu dürfen. Unterschrift: Jonit!
Ich muss ziemlich blass geworden sein; eine Kollegin fragte teilnahmsvoll, ob es schlechte Nachrichten gäbe. „Keine Ahnung“, entgegnete ich, „ich weiß nicht genau, was ich daraus entnehmen soll.“ Sie las das Mail. „Mensch, Hanna, das heißt, du bist in der engeren Wahl!“ „Meinst du wirklich?“, fragte ich zweifelnd. „Na klar, warum sonst sollten sie dich nochmals einbestellen? Und Raumfahrtzentrum direkt, das heißt, sie wollen dir alles zeigen. Das kann doch nur bedeuten, dass sie dich wollen!“ Ich weiß nicht mehr, wie ich die Zeit bis zum 17. durchlebte. Ich bekam nichts mehr mit. Als ich kurz vor 16.00 Uhr im Raumfahrtzentrum auftauchte, konnte ich mich vor lauter Herzklopfen und Zittern kaum noch auf den Beinen halten; meine Hände waren schweißnass. Zu allem Überfluss erwartete mich auch noch Jonit direkt an der Eingangsschranke. Er sagte nichts, als er mir die Hand gab, aber in meinem Gehirn kam der Satz an: „Ich freue mich, Sie wiederzusehen!“ Eine klare Antwort konnte ich nicht zurücksenden. Aber wenn ich einmal davon ausging, dass Jonit tatsächlich bei mir eingeklinkt war, solange er mich berührte, und meine Gedanken lesen konnte, würde er sicher schon mitbekommen, wie es bei mir aussah. Wir stiegen in das Solarmobil ein, mit dem man sich auf dem Gelände fortbewegte. Jonit erklärte mir die Anlage. Mitten in der Erklärung – ohne auch nur zu stocken dabei – legte er mir plötzlich seine Hand auf den Arm, und ich vernahm die Nachricht: „Ganz ruhig! Sie haben keinen Grund, aufgeregt zu sein. Ich bin ziemlich sicher, dass UC Sie einstellt. Ich freue mich schon auf die Zusammenarbeit!“ Ein derartiges Einfühlungsvermögen hatte ich von einem Ageloru nicht erwartet. Und Jonits Nähe nahm mir ohnehin schon die Luft zum Atmen. Als wir endlich ausstiegen, war ich wie benebelt.
Während des Gespräches – Uloglu war dabei, Haydon, und verschiedene Mitarbeiter, die mir zwar alle vorgestellt wurden, deren Namen ich aber beim besten Willen nicht behalten konnte – hielt Jonit sich bewusst von mir fern. Aber es half nichts. Die ganze Zeit über war ich mir seiner Gegenwart so bewusst, als ob er unmittelbar neben mir stünde. Als ob ich per Autopilot flöge, muss ich dennoch einigermaßen passende und intelligente Antworten gegeben haben, soweit ich das aus der Reaktion der anderen schließen konnte. Am Schluss fragte mich Uloglu dann, wann ich zur Vertragsunterzeichnung vorbeikommen könne. Bevor ich etwas allzu Dämliches dazu sagen konnte, mischte Jonit sich ein. „Sie haben sich sicher schon gedacht, dass wir uns für Sie entschieden haben, nach der Einladung. Aber ich möchte Sie nun auch ausdrücklich in unserem Team begrüßen!“ Eigentlich hatte ich erwartet, bei dieser Mitteilung einen Jubelschrei ausstoßen zu müssen. So lächelte ich nur völlig verwirrt und gab allen die Hand. Bis auf Jonit – der mich noch wieder zum Tor zurückbringen wollte. Als wir im Solarmobil saßen, herrschte zunächst einmal Schweigen. Dann gab ich mir einen Ruck, sah ihm voll ins Gesicht und fragte: „Was ist das?“ Wenn ich mir das Ganze nur eingebildete hatte, so von wegen internem Gedankenaustausch, dann würde er mich jetzt völlig verständnislos ansehen. Aber ich hatte wohl nicht. „Das ist mir auch noch nicht ganz klar“, war seine Antwort, „es widerspricht jeder Logik, aber es ist nun einmal da. Ich werde versuchen, es Ihnen irgendwann einmal zu erklären.“ Nicht sehr befriedigend, diese Antwort, aber vorerst machte mich schon die Tatsache ganz glücklich, dass ich wohl doch noch nicht ganz in die Klapsmühle gehörte. So sehr, wie mich seine Nähe verwirrte, war ich froh, mich bald auch von ihm verabschieden zu können. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, hätte ich zu diesem Zeitpunkt schon gewusst, dass er ein paar Stunden später vor meiner Tür stehen würde. Wahrscheinlich wäre ich weggelaufen.