19. Juni 2008

Blind Date

Meine Güte, bin ich aufgeregt! Über zwei Monate haben wir uns jetzt schon gemailt. Meistens ging es jeden Tag mehrfach hin und her. Am Telefon sprechen wir auch wenigstens alle zwei Tage miteinander. Er hat eine wunderschöne Stimme; ganz dunkel, mit so einer kleinen Vibration drin, wenn die Gefühle mit ihm durchgehen. Das macht mich immer ganz kribbelig.

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Es war nie schwierig, ein Thema zu finden. Nie peinlich. Im Gegenteil; meistens hatten wir eher das Problem, dass wir kein Ende gefunden haben, obwohl wir beide beruflich ganz schön unter Stress stehen. Aber nach so einem Gespräch lief es ja auch immer gleich viel besser mit der Arbeit.

Eine wunderschöne Zeit war es.

Und morgen soll sie jetzt ihr Ende finden. Ab morgen Abend ist es vorbei mit den ganzen Träumereien, wie toll er wohl sein mag. Wie leidenschaftlich, zärtlich, lieb, sanft, tolerant, großartig. Denn morgen werde ich erfahren, wie er wirklich ist.

Ungefähr weiß ich, wie er aussieht; schließlich habe ich mehrere Bilder von ihm. Aber wenn er als lebendiger Mensch vor mir steht, sitzt, neben mir liegt vielleicht sogar – ich weiß nicht, wie weit wir gehen werden morgen -, das ist doch etwas ganz anderes als ein totes Bild.

Vielleicht hat er Schweißfüße? Mundgeruch? Oder gehört zu den Tollpatschen, die erst einmal drei Vasen und vier Tassen zertrümmern, bevor sie sich einmal umgedreht haben?

Langsam gerate ich in Panik.

Abgesehen davon, dass mir so viele unangenehme Überraschungen bevorstehen können, gibt es ja noch ein ganz anderes Problem. Wenn ich alleine daran denke, was ich morgen früh noch alles machen muss, ehe ich ihn gegen zwölf am Bahnhof abhole; duschen, rasieren, eincremen, schminken, anziehen.

Himmel, noch immer bin ich nicht sicher, ob ich einfach Jeans und T-Shirt nehme oder das schwarze, enge Kleid. Oder vielleicht etwas noch Verführerischeres? Nein; doch nicht für den Bahnhof. Später kann ich mich ja immer noch umziehen – wenn die Stimmung danach ist.

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Die Wohnung ist einigermaßen in Ordnung, eingekauft habe ich auch schon. Ob meine Kochkünste ihm wohl reichen werden? Pah, wenn nicht, soll er einfach selbst den Kochlöffel schwingen! Oder wir gehen in ein Lokal.

Und was machen wir die ganzen anderthalb Tage, bevor er wieder zurück muss?

Werde ich erleichtert aufatmen, wenn ich ihn zum Zug bringe, oder wird es mir das Herz zerreißen?

Noch einmal gehe ich meine frisch gesäuberten und gepflegten Spielzeuge durch. Ich bin mir nicht sicher, ob ich auch nur ein einziges davon brauchen werde. Momentan fühle ich mich überhaupt nicht dominant. Ich gäbe etwas drum, wenn nicht ich die Initiative hätte. Wenn nicht ich diejenige wäre, die zu entscheiden hat, was geschieht; ob wir uns nur nett unterhalten, oder ob es Küsse gibt, Umarmungen, mehr. Ob wir intim werden miteinander.

Wo ist mein Mauseloch …

Wie bin ich eigentlich auf die Idee gekommen, dass ich eine Sadistin bin? Wenn er wirklich so nett ist, wie er es die ganze Zeit aus der Distanz war, wenn seine körperliche Nähe mich ebenso aus der Ruhe bringt wie seine Stimme und seine geschriebenen Worte – dann kann ich ihm doch gar nicht wehtun! Und wenn er es nicht ist – nun, dann natürlich erst recht nicht!

So oft haben wir auch dieses Thema gestreift; wir wissen genau, was der andere mag, wo die Grenzen sind – seine und meine. Aber ich kann doch nicht einfach einen mir völlig Unbekannten auspeitschen!

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Aber halt – jetzt ist es genug mit den ganzen ängstlichen Gedanken! Meine Güte – wir haben uns bisher so gut verstanden, und alles hat sich quasi wie von selbst ergeben. Also höre ich sofort auf, mir Sorgen zu machen.

Mit einem kitschigen Film lenke ich mich ab. Schlafen kann ich nicht; denke ich – und bin doch schon erschöpft im Land der Träume gelandet. Ein großer, schlanker, verführerischer Fremder spukt darin herum …

Morgens wache ich lange vor dem Weckerklingeln auf. Zwei Stunden vergehen mit den ganzen Vorbereitungen. Zufrieden bin ich mit meinem Aussehen immer noch nicht, aber ich beschließe, es dabei zu belassen. Schließlich will ich ihm ja auch kein geschöntes Phantombild vorführen. Mich selbst soll er mögen.

Per SMS sagt er Bescheid, dass er nun im Zug sitzt und sich ungeheuer auf mich freut, dass er ganz aufgeregt ist. „Dito“, antworte ich. Nur dass ich nicht im Zug sitze.

Meine Knie sind wacklig, meine Finger zittern. Quälend langsam schleicht die Zeit.

Endlich ist es halb zwölf. Ich fahre los, bin zehn Minuten später am Bahnhof. In der Buchhandlung dort vertreibe ich mir die Zeit. Als ich mich viel zu früh auf den Bahnsteig begebe, wird mir beinahe schwarz vor Augen, so durcheinander bin ich.

Acht Minuten Verspätung hat der Zug. Jede ist wie eine ganze, unerträgliche Ewigkeit. Endlich sehe ich in der Entfernung die Lokomotive. Ich bin schweißnass. Der Zug läuft ein, um mich herum strömen Menschen in alle Richtungen.

Ganz ruhig bleibe ich stehen, sehe kaum auf. Er soll mich finden.

Hanna?„, sagt da neben mir eine Stimme. Eine Stimme, die ich nur zu gut kenne. Obwohl sie ohne Technik dazwischen, ohne Telefon irgendwie anders klingt. Ich sehe ihn an. Er lächelt, und dann nimmt er mich kurz entschlossen in den Arm und gibt mir einen Kuss.

Eigentlich sollte die Initiative dazu ja von mir ausgehen; aber ich bin momentan ganz froh darüber, sie aus der Hand genommen zu bekommen.

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Er ist nicht ganz so groß, wie er behauptet hat; Männer scheinen irgendwie trotz ihrer Vorliebe für Zahlen ihre eigene Größe selten korrekt einzuschätzen. Ihre eigene – und die ihres besten Stücks. Zu dessen Größe hat er sich nicht geäußert. Sonst wäre er auch nicht hier. Typen, die ihre 11 bis 17 cm für wichtiger halten als ihren IQ, der oft genug auch noch kürzer ist, die kann ich nicht ausstehen.

Seine ein bis zwei Kilo zu viel um die Mitte herum, die er erwähnte, erweisen sich als tüchtiger Bauchansatz. Davon hat er mir natürlich kein Bild geschickt. Na, mit ein paar Wochen Sport kriegt er diese Fettmasse nicht weg, wie er behauptet hat.

Aber ich darf nicht so sehr auf Äußerlichkeiten schauen.

Er bückt sich, befreit etwas in Zellophan Verpacktes von einem Gurt seiner Reisetasche. Eine einzelne rote Rose.

Oh Gott! Ich murmele einen verlegenen Dank, versuche, meine wahren Gedanken zu diesem Mitbringsel zu verbergen. Erstens ist das einfallslos wie nur etwas, und zweitens habe ich ihm doch gesagt, ich mag keine Schnittblumen, die doch nach ein paar Tagen sterben.

Aber vielleicht ist sie ein ganz passendes Symbol, seine Rose. Auf Bildern ist sie wunderschön, in echt erinnert sie nur an ihren Tod.

In mir ist es ganz still und tot. Da ist nichts von der Aufregung, von dem klopfenden Herzen, von den warmen Gedanken, die mich nun zwei Monate lang erfüllt haben.

So nahe er mir in seinen Mails war, so ferne ist er mir als leibhaftiger Mensch aus Fleisch und Blut.

Nun ja, ich muss ja schließlich auch nicht erwarten, dass die Vertrautheit binnen Sekunden von allein kommt. Außerdem – wer weiß, womöglich ist er von mir erst einmal genauso enttäuscht wie ich von ihm.

Wir gehen in Richtung Parkhaus, plaudern über seine Fahrt. Er hat sich Arbeit mitgebracht, sagt er; anderthalb Tage ganz ohne etwas zu tun seien bei ihm nun einmal nicht drin. Aha – das klang in den Mails aber ganz anders. Oder hat er sich nur auf den Fall vorbereitet, dass wir nichts miteinander anfangen können?

Als ich, am Auto angekommen, die Beifahrertür öffnen will, fällt mir der Schlüssel herunter – mein Wagen ist zu alt für eine funkgesteuerte Zentralverriegelung. Wir bücken uns gleichzeitig danach, stoßen dabei mit den Köpfen zusammen. Er hilft mir auf, küsst mich noch einmal.

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Na, na; sehr zurückhaltend und devot wirkt er aber nicht gerade, der Herr …

Auf dem Weg zu meiner Wohnung erkläre ich ihm ein wenig über die Stadt. Er nickt, murmelt etwas Unverbindliches. Ich parke, er nimmt seine kleine Reisetasche, wir gehen hinein. Etwas, nein, sehr verlegen stehen wir herum.

Was jetzt?

Hast du Hunger?„, frage ich.

Nein, ich habe ihm Zug was gegessen„, erwidert er. „Aber vielleicht hast du einen Kaffee für mich?

Klar habe ich einen Kaffee für ihn; extra gekauft. Ich selbst bin Teetrinker, beschließe nun aber, einen Kaffee mitzutrinken. Vielleicht kann diese Geste etwas Gemeinsamkeit herstellen zu diesem Fremden, der mir vorkommt, als hätte ich noch nie etwas mit ihm zu tun gehabt. Als hätten wir nie per Mail und Telefon schon über die geheimsten, intimsten Dinge miteinander gesprochen.

Aber das ist doch ganz normal bei der ersten Begegnung, rede ich mir ein. Das wird schon werden.

Er verschwindet im Wohnzimmer, während ich mich hastig und ungeschickt ans Kaffeekochen mache, entdeckt meine CD-Sammlung. Durch die Tür erhalte ich eine genaue Aufstellung, welche Musik er ebenfalls mag, welche er verabscheut, und mit welcher er nichts anfangen kann. Ich antworte einsilbig; er hört ohnehin nicht zu.

Hast du keinen Fernseher?„, fragt er irgendwann erstaunt von nebenan.

Nein„, gebe ich knapp zurück. Nein, ich habe keinen Fernseher. Ich habe nur ein paar Filme auf DVD, die ich mir im Computer ansehe.

Zu eben jenem scheint er nun vorgestoßen zu sein. „Meine Güte, was für ein Chaos„, höre ich von noch etwas weiter weg als vorhin.

Moment – ein Bild von meinem Arbeitsplatz hatte ich ihm geschickt, aufgenommen mit meiner Digitalkamera. Er weiß, ich bin ein Chaosarbeiter. Außerdem, was zum Teufel macht er eigentlich? Meine Wohnung begutachten? Noch dazu ohne mich vorher um Erlaubnis zu fragen?

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Der Kaffee ist fertig!“ rufe ich ungnädig, decke den Tisch mit zwei Tassen, Löffeln, Milch und Zucker.

Nach einer Weile – ich habe schon uns beiden eingegossen, mir viel Milch dazugetan, und rühre um, als gelte es, einen Strudel-Wettbewerb zu gewinnen – kommt er angeschlendert, setzt sich.

Suchend sieht er sich um. „Hast du nicht was Süßes dazu?

Aber natürlich habe ich Kuchen gekauft. Obwohl er mir ja lang und breit erklärt hat, er ist gerade auf Diät. Weil er abnehmen will; für mich. Ich freue mich über meine Vorausschau, ebenso wie ich mich darüber ärgere, wie leicht er ein solches Versprechen nimmt.

Dabei war er so beleidigt, als ich nicht prompt versprach, dafür seinetwegen das Rauchen aufzugeben.

Apropos – genau das habe ich mir seinetwegen jetzt schon fast eine Stunde verkniffen; auf der Fahrt zum Bahnhof, denn schließlich sollte das Auto nicht zu sehr nach Rauch riechen, auf dem Bahnsteig, trotz meiner Nervosität, weil ich einen frischen Atem haben wollte, und auf dem Rückweg. Es wird Zeit für eine Zigarette.

Ganz offen missbilligend beobachtet er, wie ich ein Stäbchen aus der Packung ziehe und anzünde. Er soll mich bloß in Ruhe lassen – er besteht auf seinem Kuchen, also soll er mir mein Laster ebenfalls lassen.

Nein, genau das tut er nicht. Er hält mir einen langen Vortrag über die Schädlichkeit des Rauchens, so penetrant, dass ich mir gleich die nächste anstecke, stopft die ganze Zeit Kuchen in sich hinein. Ob ich jetzt mit ein paar Fakten über Zucker und Fett pariere? Ach was, das ist doch dumm und kindisch. Wir befinden uns ja nicht im Krieg miteinander.

In etwas anderem allerdings auch nicht.

Ich fühle nichts, wenn ich ihn ansehe, seine Stimme höre. Schlicht nichts.

Okay, natürlich kann diese kribbelnde, prickelnde Verliebtheit in die eigenen Träume nicht sofort umspringen in eine für ein anderes menschliches Wesen. Aber wenigstens irgendetwas müsste ich doch langsam spüren. Freundlichkeit, oder das Gegenteil. Lust darauf, ihm näher zu kommen. Oder den Wunsch, ihn am besten gleich wieder loszuwerden.

Halt.

Da ist etwas. Genau das.

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Ich sträube mich dagegen, bemühe mich um Konversation. So schnell kann ich doch nicht aufgeben.

Er bemüht sich ebenfalls, das muss man ihm lassen. Wir kommen sogar auf Sex zu sprechen, auf BDSM, auf die Sinnliche Magie. Mit Feuereifer spricht er darüber; aber der bezieht sich auf seine eigenen Emotionen dabei, nicht auf mich. Das ist deutlich zu spüren. Er berührt mich nicht, und ich weiß genau, warum. Auch mir ist es unvorstellbar, ihn zu berühren. Ich mag einfach nicht.

Ich weiß nicht, wie lange wir geredet haben; fast zwei Stunden, denke ich, der Anzahl der Kippen in meinem Aschenbecher nach. Mal mühsam, mal weniger mühsam.

Auf einmal schiebt er energisch seinen Teller zurück und die wieder einmal leere Tasse, in die ich schon mehrfach Kaffee nachgeschenkt habe.

Ich glaube, ich gehe jetzt besser„, sagt er. Ein wenig traurig, und sehr erleichtert.

Ich sehe ihn an, sehe ihm direkt in die Augen.

Es ist unser allererster ehrlicher Moment, seit wir uns physisch begegnet sind. Er lächelt ein wenig, ich lächle zurück.

Fast kommt mich in diesem Augenblick etwas wie Bedauern an; da ist sie auf einmal wieder, die alte Vertrautheit aus unserem virtuellen Kontakt. Diese Nähe, die einfach Verstehen ist, ein Verstehen ohne Worte.

Wer weiß – vielleicht wird ja doch noch etwas aus unserem Treffen. Wenn wir es schaffen, ab jetzt ehrlich zu sein.

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